Der Atem der Angst (German Edition)
ich hier wohne.«
» Bringen Sie mich nicht nach Hause?«
Statt einer Antwort bremste er und schaltete den Motor ab. Jetzt war es still. Vollkommen still und dunkel um sie herum. Nur Stille und Dunkelheit. Sonst nichts. Winnie drehte seinen Kopf hin und her und versuchte irgendetwas hinter den Scheiben zu erkennen. » Was machen wir hier?«
Mit einer schnellen Bewegung griff er nach hinten, packte den kleinen Jungen am Arm und zog ihn mit seiner gedankengesteuerten, voll funktionsfähigen Hand zu sich heran. » Das wirst du gleich sehen.«
32 . LOUIS
Louis starrte auf das zerfledderte Poster an der Präsidiumswand, das ein Polizeiabzeichen auf blauem Hintergrund zeigte. Darunter stand: » Wir wollen, dass Sie sicher leben.« Sehr witzig. Das gelang den Typen ja ausgezeichnet. Daneben pinnte ein Gruppenfoto des fröhlichen Polizeikollegiums beim diesjährigen Sommerfest.
Keiner kümmerte sich hier um ihn, obwohl er eine wichtige Meldung zu machen hatte. Das hatte er vorhin gleich dieser Sekretärin im rosa Flauschpulli angekündigt. » Ich muss dringend mit diesem langhaarigen Typen oder irgendeinem anderen Chef hier sprechen.« Sie hatte gar nicht richtig hingehört, sondern nur gemeint, das könnte dauern, da alle gerade im Einsatz auf dem Halloweenumzug seien, und ihn raus in den Flur geschickt.
Seitdem wartete er hier auf einem der an die Wand gerückten Stühle. Außer dieser strickenden Sekretärin, die sich Überraschungseifiguren auf den Computer geklebt hatte, war tatsächlich niemand hier. Draußen in den Gassen war der Teufel los. Jetzt, wo klar war, dass Leonie überlebt hatte, war es der Stadt und der Polizei offenbar egal, dass seine Freundin verschwunden war.
Er hatte Michelle in der Unterführung gesehen. Die Polizei musste im Wald nach ihr suchen. Was hatte sie dort oben verloren? Wusste sie, wer Leonie das angetan hatte? Versuchte sie sich zu verstecken? Warum war sie vor ihm davongerannt?
In der Hand hielt Louis einen Plastikbecher, dessen Rand er heftig mit den Zähnen malträtierte. Innerhalb der letzten Stunde hatte er sich mindestens zehnmal am Wasserspender bedient. In seinem Bauch gluckerte es. Ob hier überhaupt nochmal was passierte?
Er sollte hier auf die verantwortliche Kommissarin warten, hatte die Tante im rosa Mohairpulli gesagt. Das war vor mehr als einer halben Stunde gewesen. Gleich würde er aufstehen und auf eigene Faust im Wald nach Michelle suchen. Sie war direkt in die Bäume hineingelaufen, bis er sie verloren hatte. Als hätte sie eine geheime Kraft in die bewaldeten Berge hinaufgerufen.
Na gut! Louis stand auf und ging entschlossen zurück ins Büro, auf den Schreibtisch zu, hinter dem die Sekretärin telefonierte, umringt von ihren Überraschungseifiguren. Sie hatte ihre Stimme gedämpft. » Nein, er ist hier nicht aufgetaucht… versuchen Sie, ruhig zu bleiben… bestimmt nichts passiert… zu Hause auch nicht?«
Sie sah zu Louis hoch, der ein paar Schritte von ihrem Tisch entfernt stand, und erklärte trocken: » Das kann hier noch ein bisschen dauern. Der Kommissarin ist etwas dazwischengekommen. Lass doch deine Handynummer da, sie meldet sich dann bei dir.«
Wie bescheuert waren die eigentlich? Louis kam an den Tisch heran, kritzelte eine Notiz auf ein Blatt Papier, das auf so einem Aktenstapel lag, und rannte aus dem Präsidium. In der kalten Abendluft sprang er auf sein Rennrad und raste los. Er hatte durch die Warterei genügend Zeit verloren. Pech gehabt. Dann nahm er die Sache eben selbst in die Hand, wenn es die Polizei wichtiger fand, den Halloweenumzug im Auge zu behalten, als Mädchen zu helfen, die der Gefahr schutzlos ausgeliefert waren.
In der Fußgängerzone umkurvte er die Untoten mit ihren Fackeln wie Slalomstangen.
Zu Hause stopfte er eilig ein paar Sachen in den Rucksack: warme Socken, seine Regenjacke, eine Taschenlampe. Ein paar belegte Brote. Wer wusste schon, wie lange er sich da oben im Wald aufhalten würde? Er würde nicht gehen, bevor er Michelle gefunden hatte.
Nebenan hockte seine Mutter vor dem Fernseher und rief schon zum dritten Mal: » Lou! Was machst du da?«
» Nichts!«
Er musste Michelle finden. Er würde es nicht überleben, wenn ihr etwas zustoßen würde. Sie war sein Ein und Alles. Sein Engel. Es war unerträglich, sich vorzustellen, wie sie allein und verschreckt im dunklen Wald herumirrte.
Wovor fürchtete sie sich? Hatte dieser Sägewerker, der sie neulich nach Hause gefahren hatte und an dessen Namen er sich
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