Der Atem der Angst (German Edition)
das ginge! Er durfte nicht die Nerven verlieren. Er durfte nicht an früher denken. Er musste klar und kalt bleiben, wenn er wissen wollte, wer das da oben seiner Mutter angetan hatte. Wer Michelle in den Tod gezwungen hatte. Seinen Vater. Seine Schwester. Und warum? Waren es die Widerwärtigen gewesen, wie Maya sie nannte? Gab es sie also wirklich? Hatten sie vor, die gesamte Clique und ihre Nachkommen auszuradieren? Wer waren die Widerwärtigen? Kannte er sie? Die Antwort darauf würde Louis nur finden, wenn er wusste, wer damals zur Clique gehört hatte. Und was, wenn auch Polizisten unter den Widerwärtigen waren? Dann durfte er sich ihnen nicht anvertrauen. Dann musste er damit rechnen, dass Beweise verschwinden und auch diese Morde nie aufgeklärt werden würden. Was war damals passiert, das dieses Ausmaß an Grausamkeit hervorbrachte?
Seit einer Stunde kreisten die Fragen in seinem Kopf, ohne dass er auch nur eine einzige Antwort darauf fand. Er konnte hier nicht ewig herumsitzen. Er musste noch einmal nach oben gehen, um die Tür zu Isabels Zimmer aufzuschließen. Es blieb ihm, wollte er auch nur einen Funken Licht ins Dunkle bringen, nichts anderes übrig, als in den dort gelagerten Kartons nach dem alten Fotoalbum seiner Mutter zu suchen. Er wusste, dass es in einem von ihnen steckte. Früher hatten sie es sich öfter gemeinsam angesehen. Isabel und er hatten rechts und links von Bella gesessen, während sie ihnen all die Bilder aus ihrer Jugend gezeigt hatte. Sie bei der Krönung zur Schönheitskönigin von St. Golden. Sie mit ihrer Clique auf dem Rummel. Sie mit ihrer Clique beim Baden oben im Bergsee, um zu beweisen, wie schön sie gewesen war.
» Du warst wunderschön«, hatte er ihr bestätigt.
» Du bist immer noch wunderschön«, hatte Isabel gesagt und ihr einen Kuss auf die Wange gegeben. Nach Isabels Tod hatte Bella das Album in einem der Kartons verstaut und weggeschlossen.
Louis musste das Album aus Isabels Zimmer holen. Seit dem Tod seiner Schwester hatte er es nicht mehr betreten. Vor Anspannung bekam er kaum noch Luft, als er langsam die Treppe hinaufstieg. Oben im Flur blieb er für einen Augenblick vor ihrer Kinderzimmertür stehen, an der noch immer das niedliche Katzenposter klebte. Seine Hände zitterten, als er den Schlüssel im Schloss herumdrehte. In seinen Schläfen pochte der Puls. Er beschwor sich, dass dieses Zimmer keinerlei Bedeutung hatte. Es war nur ein Zimmer. Mehr nicht. Nur ein gottverdammtes Zimmer, in dem zufällig ein paar Kinderzimmermöbel und Umzugskartons standen.
Louis stieß die Tür auf. Im Luftzug wehte der hellrosa Tüllhimmel über dem Mädchenbett. Darunter türmten sich Blümchenkissen und Stofftiere. Nichts hatte sich verändert. Auf dem Nachtschränkchen stand Isabels Kassettenrekorder. Louis lachte bitter auf, dabei lief ihm eine einzelne Träne über die Wange. Seine Lippen zitterten. Ein Kassettenrekorder! Wo gab’s denn so was noch!? Daneben stapelten sich Hörspielkassetten von Bibbi Blocksberg. Es zerriss ihn beinahe von innen. Seine Knie gaben nach. Nein! Er würde stehen bleiben und all das hier zu Ende bringen! Irgendwer musste es tun. Damit dieser Albtraum nicht immer weiterging!
Vor dem Kleiderschrank, an den Isabel stolz ihre Turnmedaillen mit Doppelklebeband geheftet hatte, standen die Umzugskartons. Eilig öffnete Louis die Deckel. Nebenan lag seine Mutter auf dem Teppich. Am liebsten hätte er geweint. Aber wer sollte ihn trösten? Wer sollte ihm sagen, dass noch nicht alles zu Ende war? Wer nahm ihn in den Arm, bis der Schmerz nachließ? Sollte er doch noch einmal zu seiner Mutter reingehen und sich von ihr verabschieden?
In diesem Augenblick wusste er, dass er nicht zurückkehren würde, nicht bevor er wusste, wer ihm das alles genommen hatte. Dieses Waldmädchen musste ihm dabei helfen. Sie war die Einzige, der er noch vertrauen konnte. Mit ihr würde er gemeinsam Puzzleteil für Puzzleteil aneinanderlegen und schließlich das gesamte Bild erkennen. Und dann würden sie sich zusammen aufmachen und für Gerechtigkeit sorgen. Ein für alle Mal.
Eilig beugte er sich über den ersten Karton. Darin lagen nur alte Kleider seiner Mutter. Oben auf das goldene Krönchen der St. Goldener Schönheitskönigin. Darunter ein Badeanzug aus ihrer Teenagerzeit. Ehemals leuchtend rot, nun war der Trikotstoff matt und brüchig. Louis grub bis zum Boden. Da war kein Album. Er wühlte sich durch den nächsten Karton und den übernächsten, in denen
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