Der Atem der Angst (German Edition)
Winnie sich an ihm beinahe die Zähne ausbiss.
Als das nichts half, schlug Winnie um sich. So wie es in der Schule verboten war. Gut, dass er trotzdem auf dem Pausenhof trainiert hatte. » Lass mich los! Du Dummbatz! Ich will nach Hause!«
So wie im Film, zog er sich seine Daunenjacke aus und rannte aus der Haustür, direkt auf den hohen Holzzaun zu, dessen Tor verschlossen war. Wäre er ein Superheld mit Superkräften gewesen, wäre er einfach mit einem Satz darüber gesprungen. Aber er war kein Held und er hatte auch keine Superkräfte. Darum versuchte er, an dem Tor emporzuklettern. Wie im Film. Was nicht klappte. Er fiel rücklings zu Boden. Bevor er sich wieder aufgerappelt hatte, stand der Mann schon über ihm und blickte kopfschüttelnd auf ihn hinunter.
Der Mann hatte recht. So einfach kam er hier nicht raus.
47 . MAYA
Maya blieb an der Kante des hohen Felsvorsprungs stehen. Ihre schmale Silhouette mit dem Fellumhang hob sich weich vom herbstlichen Nachmittagshimmel ab. Über dem vergilbten Gras, dem bräunlichen Moos lag glitzernd der Tau. Zwischen ihren mit Lederlappen umwickelten Füßen un d dem st eilen Abgrund war nicht mehr als eine Handbreit Platz.
Maya stand ganz still. Sie atmete ruhig ein und aus. Genau wie vor ein paar Tagen, als sie schon einmal hier gestanden und auf St. Golden hinuntergeschaut hatte, war sie noch immer ein fünfzehnjähriges Mädchen. Und doch war alles anders. Die Hoffnung, endlich, nach sieben entbehrungsreichen Jahren in die Wärme und Geborgenheit einer Stadt, eines Hauses, eines Zimmers mit Bett zurückzukehren, war erloschen. Trotz allem stand sie hier und fühlte sich unbesiegbar. Aber nicht weil ihr Jagdmesser im Gürtel steckte und sie geschickt mit Pfeil und Bogen umgehen konnte. Oder weil sie eine wache Späherin war, die jederzeit bereit war, zu töten. Sondern weil in ihr, seit sie dem Stadtjungen Louis begegnet war, ein nie gekanntes Gefühl erwacht war, das sie von innen ganz und gar mit Glück ausfüllte. Vor diesem Gefühl verblasste gerade die ganze Welt. Sie wusste nicht, ob dieses Gefühl einen Namen hatte, aber es war gut.
Hinter ihr breitete der Kiefernwald seine weiten Schwingen aus. Wieder trocknete frisches Blut auf Mayas sehnigen Händen und den drahtigen Oberschenkeln. Sogar auf ihren Waden hatte das Töten rote Spuren hinterlassen. Sie hatte den Rehbock doch noch erwischt. Nicht weit vom Bergsee entfernt, war er ihr vor den Bogen gelaufen. Nun lag er hinter ihr im Gras. Gleich würde sie das Tier wieder schultern und zur Höhle tragen. Sie hatte für den Winter vorgesorgt. Sie hatte ihn mit einem einzigen, gezielten Schuss erlegt. Jetzt spürte sie wieder ihre jugendliche Kraft durch die Venen pulsieren.
Sie richtete ihren Blick talwärts. Unten, am Fuß des Steilhangs, stieg weißer Rauch aus den Schornsteinen der schmalen Fachwerkhäuser empor. Auf dem gegenüberliegenden Fels stand das ins orangefarbene Herbstlicht getauchte neugotische Schloss mit seinen beiden imposanten Türmen. In seinen Fenstern reflektierte die späte Sonne.
Und hier stand sie. Maya. Mit nach hinten gezogenen Schulterblättern, offener Brust, in der ein gutes Herz schlug. Ein gutes, warmes Herz aus purem Gold. Unter ihren Sohlen fühlte sie das weiche Moos. Ihr Blick folgte den Autos, die durch die Unterführung auf den riesigen Parkplatz des 24-Stunden-Supermarkts fuhren. Dort unten wohnten die Widerwärtigen. Und irgendwo, in einem der Häuser, wohnte der Stadtjunge Louis und in seiner Brust schlug ein gutes, warmes Herz aus purem Gold. Vielleicht war er längst in den Gassen unterwegs, zurück zu ihr.
Maya trat einen Schritt vom Abgrund zurück. Ihr Atem ging heftiger. Langsam drehte sie sich um. Vor ihr reckten sich die mächtigen Kiefern bis hinauf in den von roten Schlieren durchzogenen Himmel. Dort drinnen, zwischen all den unzähligen Stämmen, befand sich ihr Zuhause. Hier lag der erlegte Rehbock. Sie kniete sich vor ihn hin und strich andächtig über sein dichtes rotbraunes Fell. Vielleicht, ganz vielleicht würde sie daraus für diesen Stadtjungen einen Umhang für den Winter fertigen. Maya holte tief Luft und mit einer geschickten Armbewegung lag das erlegte Tier auf ihren Schultern. Sie stemmte sich zurück in den Stand und ging auf das undurchdringliche Schwarz zu, das für sie Heimat und Schutz bedeutete. Was machte es schon, den Rest des Lebens im Wald zu verbringen? Sie hatte einen Jungen getroffen. Sollte er nicht wiederkommen, so würde sie doch
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