Der Atem der Angst (German Edition)
mit der Gewissheit leben, dass sie einmal geliebt hatte. Ja, so nannte man dieses Gefühl wohl. Liebe. Sie war ganz und gar erfüllt von Liebe. Das war mehr, als sich ein Waldmädchen je hätte wünschen können. Sie war auf dem Weg nach Hause. Und wenn er kommen wollte, würde sie ihn empfangen.
48 . HEIDI
Es war Viertel vor drei. Sie hatte Winnie versprochen, in fünfzehn Minuten zu Hause zu sein. Doch in dieser Viertelstunde hatte Heidi etwas zu erledigen, das ihr so monströs erschien, dass sie sich nicht vorstellen konnte, diese paar läppischen Minuten überhaupt zu überstehen. Dieses Mal parkte sie nicht genau vor dem schmalen Fachwerkhaus hinter der Kirche. Heute parkte sie am Ende der Fußgängerzone und lief die restlichen Meter durch den Nieselregen zum Haus, damit drinnen nicht schon die Panik ausbrach, sobald Sarah und Jens ihr Auto sahen.
Am klügsten war es, sich anzuschleichen, zu klingeln und, sobald die Tür aufging, sofort die schlechte Nachricht zu überbringen. Ohne Zeitverzögerung. Ohne Stottern oder beschönigende Worte. Bei der Nachricht, die Heidi zu überbringen hatte, gab es nichts zu beschönigen. Da gab es keinen Trost. Keine Hoffnung. Es war die Hölle.
Seit Ewigkeiten war sie nicht mehr in der Kirche gewesen, nie hatte sie verstanden, was es da drin eigentlich genau zu suchen gab. Doch jetzt stellte sie sich, anstatt bei Michelles Eltern zu klingeln, in den Türbogen aus Sandstein, um noch einmal tief Luft zu holen. Und zum ersten Mal in ihrem Leben betete sie. Sie rief Gott um Hilfe an. » Vater unser im Himmel«, das sagte man doch, oder? » Vater unser im Himmel, steh mir bei, wenn ich dieser Familie gleich sagen muss, dass sie ihre Tochter verloren hat. Steh mir bei.« Heidi schluckte. » Amen.«
Der Nieselregen wurde heftiger. Heidi zog den Reißverschluss ihrer Wetterjacke bis unters Kinn. Dann wieder runter. Sie konnte da nicht mit geschlossener Wetterjacke auflaufen. Warum nur stand ihr keiner bei? Warum nur hatte sie immer wieder das Gefühl, alles alleine durchstehen zu müssen?
Am liebsten wäre Heidi weggelaufen. Was war nur los mit ihr? Diese Sache machte sie doch nicht zum ersten Mal! Aber plötzlich wurde sie von einem völligen Chaos der Gefühle überschwemmt– Trauer, Verzweiflung und ein überwältigendes Bedürfnis nach Geborgenheit. Warum war ihr Mann nicht bei ihr? In guten wie in schlechten Zeiten. Genau das hatten sie sich doch versprochen. Bedeutete so ein Versprechen nichts? Worauf sollte man sich dann verlassen? Aber sie selbst war es, die ihre Familie für ihren Job aufs Spiel gesetzt und verloren hatte. Um das Böse zu eliminieren. War es das wert?
Heidi holte tief Luft und fixierte die verschlossene Haustür, an der noch immer der orangefarbene Pappkürbis hing. Hinter den Fenstern war es dunkel. Diese Eltern warteten darauf, dass sie endlich Gewissheit bekamen. Sie hofften darauf, dass Heidi ihnen Erlösung brachte. Doch genauso gut wussten sie, dass sie ihnen auch den Tod bringen konnte. Heidi klappte den Kragen ihrer Jacke hoch und lief über die schmale Kopfsteinpflastergasse auf das Haus zu, in dem noch vor einer Woche zwei Schwestern gelebt hatten.
Ohne noch einmal innezuhalten, hob Heidi die Hand und klingelte. Sie lauschte. Sie hörte keine sich nähernden Schritte. Sie klingelte wieder. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich langsam die Tür, dahinter tauchte Sarahs verquollenes Gesicht auf. Fragend blickte sie Heidi an. Instinktiv wusste sie, was los war.
» Oh Gott! Nein! Bitte!«
Augenblicklich wollte Sarah die Tür wieder zudrücken, doch Heidi legte schnell die Hand auf das Türblatt und stemmte sich leicht dagegen. » Sarah, lass mich rein«, bat sie sacht.
» Nein, nein, nein! Geh! Verschwinde!« Sarah versuchte, die Tür mit Wucht zuzudrücken.
Eilig stellte Heidi ihren Fuß dazwischen. » Sarah! Hör mir zu. Bitte!«
» Ich will, dass du gehst. Auf der Stelle.«
» Wir haben Michelle gefunden, Sarah. Lass mich rein. Wir haben sie im Wald…«
» Ich will das nicht hören!«, schrie sie und haute die Tür gegen Sarahs Fuß. » Verschwinde!«
Hinter ihr tauchte Jens auf, der sie von der Tür wegzog, sodass Heidi sie aufdrücken und hereinkommen konnte.
» Was willst du? Uns sagen, dass wir unser Mädchen verloren haben?«
Heidi nickte. Sie musste es einmal ausgesprochen haben. Das war Pflicht. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Sie sprach laut und deutlich. » Michelle ist tot. Zum jetzigen Zeitpunkt
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