Der Atem der Angst (German Edition)
können wir noch nicht sagen, ob es Mord oder Selbstmord war.«
Jens umklammerte seine um sich schlagende Frau, als hielte er ein kleines widerspenstiges Kind. » Du kommst hierher, stellst dich in unser Haus und redest einfach los. Hast du nichts Besseres zu tun? Zum Beispiel die Kinder rechtzeitig finden, bevor sie tot sind? Schon mal darüber nachgedacht? Ich dachte, das ist dein Job!« Noch immer hielt er seine Frau in der Umklammerung.
Sarah schrie. » Mein Liebling, mein kleiner Schatz. Ich will das nicht. Ich will das nicht!«
Schließlich schaffte sie es, sich freizumachen, stürzte auf Heidi zu und bearbeitete sie mit beiden Fäusten. » Du Hexe! Du gottverdammte Hexe! Ich will, dass du gehst, dass du verreckst, du sollst dich mit deiner verdammten Dienstwaffe selbst erschießen!«
Heidi ließ es über sich ergehen. Sie ließ den ganzen Anfall über sich ergehen. Das war das Einzige, was sie für diese Mutter, die ihr Kind verloren hatte, tun konnte. Sie konnte sich ihrer Wut zur Verfügung stellen, um so die Zerstörung ihrer Familie zu sühnen, die sie selbst verursacht hatte.
Schließlich hatte sich Jens wieder so weit gefangen, dass er seine erschöpfte Frau zu sich heranzog. » Beruhige dich. Hörst du?«
» Meine kleinen, kleinen Mädchen.« Sarah sackte in sich zusammen und kauerte nun auf dem Boden, wobei sie die Beine ihres Mannes umklammerte.
Heidi sah ihm in die Augen. » Es tut mir sehr leid.«
Jens nickte stumm. Heidi war sich nicht sicher, ob er überhaupt verstand, was sie sagte. In seinen Augen blitzte Unruhe. Nervosität. Als bemühe er sich mit aller Macht, etwas zu verbergen.
Heidi griff nach der Klinke. » Ich schicke euch einen Seelsorger vorbei. Er steht euch für die nächsten Stunden zur Verfügung. Mit ihm könnt ihr…«
» Verschwinde!« Sarah warf ihr einen drohenden Blick zu. » Du und dein Scheiß-Seelsorger, ihr sollt verrecken.«
» Okay.« Heidi nickte. » Ihr habt meine Nummer. Wenn ihr so weit seid, mit einem Seelsorger zu sprechen, ruft mich an. Ich werde dann auch noch einmal vorbeikommen und euch über das Geschehene genauer informieren.«
Mit letzter Kraft wisperte Sarah noch einmal: » Verschwinde!« Dann war es still. Es war, als würde die Zeit angehalten.
Heidi sah an Jens vorbei ins aufgeräumte Wohnzimmer. Nichts in diesem Haus hatte sich sichtbar verändert. Alles war so, als sei nichts passiert. Und doch, irgendwas war anders. Aufmerksam ließ sie ihren Blick durch den Vorraum schweifen, wo noch immer die ausgehöhlten Kürbisse neben der Kommode standen. Irgendetwas hatte sich verändert. Irgendetwas fehlte. Hier war etwas umgestellt oder entwendet worden. Nur kam sie nicht darauf, was es war. Heidi versuchte sich zu erinnern, was am Vortag anders gewesen war. Ihr Blick zuckte zurück zu Jens, der im Gegensatz zu Sarah nicht bodenlos erschüttert, sondern seltsam fahrig wirkte. Ohne Heidi anzusehen, half er seiner schluchzenden Frau auf und brachte sie hinüber zum Sofa, damit sie sich hinlegen konnte. Als er zurückkam, fasste ihn Heidi am Arm. » Oder hast du einen Verdacht?«
49 . LOUIS
Bevor er die Polizei rief, um am Telefon das Unaussprechliche zu melden, musste Louis noch eine Sache erledigen. Dafür brauchte er Mut. Grenzenlosen Mut. Nervös knetete er seine Hände im Schoß. Oder war es überhaupt Mut? Vielleicht musste er auch nur das tun, was er ohnehin am besten konnte: sich kalt machen. Sich abschließen, gegen alles, was wehtat. Dann würde er es schon schaffen.
Er hockte im Wohnzimmer auf dem Sofa, wo sonst seine Mutter gesessen hatte, die nun direkt über ihm tot im Schlafzimmer lag. Tot. Seine Mutter war tot. Erstochen. Jetzt hatte er niemanden mehr auf der Welt. Er starrte hinüber zum ausgeschalteten Fernseher, dann zur Kommode, auf der die gerahmten Familienfotos in akkuratem Abstand nebeneinander standen, bis auf das, auf dem er zu sehen war. Wer hatte die Bilder so aufgestellt? Seine Mutter? Der Mörder seiner Mutter? War darin eine Nachricht an ihn enthalten? Dass er der Letzte aus dieser Familie war, auf den der Tod wartete? War es das, was ihm die Bilder mitteilen sollten? Hatte er vorhin, als er sich die Fotos angesehen hatte, verräterische Fingerabdrücke zerstört? Wer hatte hier überhaupt geputzt und aufgeräumt? Tatsächlich seine Mutter?
Louis schluckte. Ihm war übel, so als müsse er sich gleich übergeben. Sein Herz raste. Seine Hände waren kalt und feucht und versuchten, sich aneinander festzuhalten. Als ob
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