Der Atem der Angst (German Edition)
sich Bücher, Schallplatten und ein paar silberne Armreifen befanden. Im letzten Karton fand er schließlich das stoffbezogene Album. Erleichtert zog es hervor und stand auf. Bevor er ging, blickte er sich noch einmal im rosafarbenen Zimmer um.
» Ich hab dich lieb, meine kleine Elfe«, flüsterte er. » Ich werde sie alle finden, die dir und Mama und Papa das ang eta n haben. Ich werde sie finden und sie dafür büßen lassen .«
Dann klemmte er sich das Album unter den Arm und rannte damit die Treppe hinunter, raus auf die Straße. Mit einem entschiedenen Ruck zog er die Tür zu seinem ehemaligen Zuhause hinter sich zu.
50 . WINNIE
Winnie strich wieder und wieder über das weiche Fell des grauen Kaninchens, das auf seinem Schoß hockte. Er saß auf einem Küchenstuhl, ließ seine Beine baumeln und sah zu, wie der Mann am Herd Milch in einem Tiegel warm machte.
Jetzt drehte er sich zu Winnie um. » Möchtest du zu deinem Kakao auch einen Toast mit Holundergelee?«
» Aber ohne Butter.«
Der Mann lächelte. » Früher mochte ich auch keine Butter.«
Er steckte zwei Toastscheiben in den Toaster und drückte den Hebel nach unten. Als die Scheiben knusprig und die Milch warm war, rührte er Kakaopulver ein und setzte sich mit allem zu Winnie an den Küchentisch. » Hier. Lass es dir schmecken. Ich wollte dir keine Angst einjagen. Wirklich nicht. Tut mir leid.«
Winnie zuckte mit den Schultern. » Ist schon gut.« Ihm war im Keller nur plötzlich alles ein bisschen seltsam vorgekommen. Er hatte ja nicht gewusst, dass die Kiste eigentlich ein Kaninchenstall war und der Mann ihn damit hatte überraschen wollen. Winnie streckte die Hand nach dem Toast aus, mit der anderen hielt er vorsichtig das kleine Kaninchen fest. » Meinst du, meine Mutter erlaubt mir, dass ich es behalte?«
» Warum nicht? Jetzt hast du doch sogar einen eigenen Stall.«
Winnie zog besorgt die Augenbrauen hoch. » Ja, aber sie mag keine Haustiere.«
» Sie wird sich daran gewöhnen.« Er lächelte und zog vorsichtig den schwarzen Handschuh von seiner gedankengesteuerten Prothese. » Genauso, wie ich mich hier dran gewöhnt habe.« Er hielt seine künstliche Hand hoch. » Ich war auch nicht gerade scharf drauf, so ein Teil zu besitzen.«
Winnie vergaß zu kauen und starrte auf die künstliche Hand, die täuschend echt aussah. » Oha! Was hast du mit deiner richtigen Hand gemacht?«
Er legte den Handschuh auf die Tischplatte neben den Kakaobecher und drehte langsam seine Hand herum. » Die habe ich leider bei einem Unfall verloren.«
» Was für ein Unfall?« Winnie nahm einen Schluck Kakao, um besser hören zu können. Dann stellte er den Becher wieder ab.
Der Mann reichte ihm eine Serviette. » Hier, für deinen Mund. Mein Vater arbeitete drüben im Sägewerk meines Großvaters. Mein Bruder und ich spielten dort im Sommer oft auf den Holzpaletten und Baumstämmen oder sahen den Männern beim Zersägen der Baumstämme zu. Und eines Tages, als ich nicht aufgepasst habe, bin ich mit der Hand in die Kreissäge geraten.«
» Aua!« Winnie schüttelte sich. » Du Armer! Bist du sehr traurig, dass deine Hand weg ist?«
» Na ja, weißt du, jeder muss im Leben immer wieder Dinge hergeben. Besser, du lernst, es freiwillig zu tun, bevor du stirbst. Denn am Ende deines Lebens musst du das Leben selbst hergeben. Da ist es klug, sich nicht dagegen zu wehren, sonst tut es weh.«
Winnie blinzelte. » Das heißt, es hat nicht wehgetan, als du deine Hand verloren hast?«
» Doch. Das schon. Aber jetzt tut es mir nicht mehr weh, weil ich nichts mehr dagegen habe, dass ich sie hergeben musste.« Er hielt seine beiden Hände prüfend nebeneinander, die überraschend gleich aussahen. Dann fuhr er fort: » Und deine Mama wird auch nichts gegen das Kaninchen haben.«
» Ja.« Winnie grinste. » Sie bekommt es ja auch.«
» Kluger Junge.« Er strich Winnie mit seiner echten Hand über das Haar. » Hast du was dagegen, wenn ich die Handschuhe weglasse? Oder fürchtest du dich vor meiner künstlichen Hand?«
Winnie schüttelte den Kopf. » Überhaupt nicht.« Er aß den Toast auf und spülte den letzten Happen mit Kakao runter. Das Kaninchen saß ganz ruhig, voller Vertrauen auf seinem Schoß. » Was hast du noch in deinem Leben verloren?«
Er zog die Luft durch die Nasenlöcher ein und blies sie langsam wieder aus. » Lass mal nachdenken. Also, meine beiden Toastscheiben habe ich an dich verloren, vier Löffel Holundergelee…«
» Milch und Kakao«,
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