Der Atem der Apokalypse (German Edition)
Strain- II -Fall. Wenn man Strain II hat, lebt man normalerweise noch ein Jahr oder anderthalb, wenn man eine gute Kondition hat, stimmt’s? Aber den neuen Fällen geht es rapide schlechter, und zwar täglich. Sogar Michaela Wheeler, die jung und gesund war, wird den Februar wahrscheinlich nicht erleben.«
»Das heißt, Sie haben etwas gefunden?«, fragte Hask.
»Ja.« Armstrong zog ein Foto aus der Akte. »Könnte sein. Aber es wird Ihnen nicht gefallen.« Er legte das Bild in die Mitte des Tisches, damit Ramsey und Hask es beide gut sehen konnten. Hellblonde Haare fielen über ein pausbäckiges Engelsgesicht.
»Das ist doch ein Kind«, sagte Ramsey, dessen Stimme seine Angst verriet.
»Joey Brannigan. Acht Jahre alt. Er starb vor zwei Wochen an Strain II .«
»Mein Gott.«
»Weiter.« Hasks Gedanken überstürzten sich, er war schon einen Schritt voraus. »Gehe ich recht in der Annahme, dass die Geschichte schlimmer wird?«
»Jep. Joey Brannigan war ein Heimkind; das Jugendamt hat ihn mit fünf aufgegriffen, weil er wegen Misshandlung vor seiner Familie weggelaufen war. Er zeigte Symptome einer frühen TB , aber ansonsten war er gesund. Mit sechs kam er in eine Pflegefamilie, wurde aber sieben Monate später wieder abgegeben, weil die Pflegemutter schwanger wurde. Dann kam er in ein privates Kinderheim in Lambeth, wo er vor der Aufnahme untersucht und erstmals getestet wurde. Wegen der frühen TB hatte er eine schwache Lunge, doch er hatte zugenommen und sah gesund aus. Als er im Oktober plötzlich krank wurde, machten sie routinemäßig einen Hepatitis- und TB -Test, und zack, da war es: Strain II .«
»Wieso?«, fragte Ramsey.
»Erst behauptete die Leiterin des Kinderheims, dass der vorherige Test falsch abgelesen oder mit einem anderen vertauscht worden sei, aber das hat sich das Jugendamt nicht lange angehört. Anscheinend gab es vorher schon Vorbehalte gegen das …«
»Happy-Smiles-Kinderheim?«, unterbrach ihn Ramsey. »Mit Caroline Hurke als Leiterin?«
»Ganz genau.«
»Hab ich was verpasst?«, fragte Hask.
»Sieht so aus«, sagte Ramsey. »Es war überall in den Nachrichten: Sie wurde vor einem Monat verhaftet und angeklagt, Minderjährige zu verschachern. Sie leitete in staatlichem Auftrag ein kleines Heim für schwierige Fälle.«
»Jep«, sagte Armstrong. »Die Alarmglocken schrillten, weil die Kinder
zu
gehorsam waren. Wie sich herausstellte, waren sie starr vor Angst, weil sie missbraucht und immer leicht unter Betäubungsmittel gesetzt worden waren, damit sie nichts verrieten. Die Testergebnisse des kleinen Joey ließen das Jugendamt endlich aufhorchen und als sie erst mal richtig hinsahen, bemerkten sie an allen Kindern in diesem Heim Anzeichen sexuellen Missbrauchs.« Er schluckte. »Keins der Kinder war über zehn.«
Sie schwiegen, während sie diese Neuigkeit verdauten.
»Ich kann mich nicht daran erinnern, in diesem Zusammenhang etwas von einem Strain- II -Fall gelesen zu haben.«
»Das Jugendamt von Lambeth hat die Information zurückgehalten, weil die ganze Angelegenheit auch so schon schlimm genug war. Bis jetzt ist es ihnen gelungen, dass nicht öffentlich darüber berichtet wurde, aber wenn Hurke nächstes Jahr der Prozess gemacht wird, kommt es auf jeden Fall raus. Joey Brannigan hat vor seinem Tod noch eine Aussage gemacht.«
»Und was sagt die alte Schlampe dazu, wie der arme Joey sich mit Strain II angesteckt hat?«
»Interessanterweise gar nichts. Sie hat alle Kunden verpfiffen aber nicht denjenigen, der Joey verlangt hatte. Die Staatsanwaltschaft hat aufgehört, sie zu bedrängen – das Beweismaterial reicht locker für eine Verurteilung – und Joey Brannigans Familie ist es egal. Sie wissen doch, wie es ist, Sir.« Armstrong sah Ramsey entschuldigend an. »Bei einem Pädophilenring kriegen wir nie alle. Wir haben einfach zu wenig Zeit und zu wenig Leute.«
»Ich schlage vor, wir statten der guten Mrs Hurke einen Besuch ab«, knurrte DI Ramsey, den das Foto nicht losließ.
»Ich habe Holloway schon instruiert.«
»Menschen in ihrer Lage schweigen aus Angst.« Hask betrachtete nachdenklich das Foto. »Wir müssen sie noch mehr einschüchtern als derjenige, der Joey Brannigan getötet hat. So schwer kann das doch nicht sein; sicher fühlt sie sich mittlerweile einsam und allseits verfolgt.«
Grinsend nahm der Profiler noch einen Donut für die Fahrt mit. Wer nicht will, der hat schon. Wenigstens hatte er allmählich das Gefühl, dass sie
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