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Der Atem der Apokalypse (German Edition)

Der Atem der Apokalypse (German Edition)

Titel: Der Atem der Apokalypse (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Pinborough
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spürte Cass, wie die Geister näher rückten und sich ein Plätzchen in den Zimmerecken und rund um die Möbel suchten. Er konnte ihre Krallenhände sehen. Er wusste mehr über die Toten als über die Lebenden, und eines Tages würden sie es merken und ihn als einen der ihren runterziehen.
    Es war warm im Haus, doch er zitterte, als er sich aufsetzte. Alles war ihm zu eng, es trieb ihn hinaus in die eiskalte Luft, zu einem Spaziergang, um seinen Kopf von den Dämonen zu befreien und sich auf den nächsten Tag konzentrieren zu können. So vieles lag jetzt in Marics Händen. Er war sicher, dass der Weg zu Luke darin bestand, in das System einzudringen. Cass nahm seine Schuhe und schlich leise durch das schlafende Haus. In der Küchenschublade fand er einen passenden Schüsselbund und steckte ihn ein. Das Licht im Erdgeschoss brannte noch, und als er einen Blick in das Zimmer warf, sah er, dass Brian Freeman mit dem Kopf im Nacken leise schnarchte. Die Zettel waren von seinem Schoß auf den Boden gefallen und Cass verkniff es sich, sie einzeln aufzuheben. Behutsam schloss er die Tür, zog die Schuhe an und verließ das Haus.
    »Du musst hochgucken, Charlie.«
    Um drei Uhr morgens war es in der City unheimlich still. Cass bat den Taxifahrer, auf ihn zu warten, wozu er gerne bereit war. Obwohl Dezember war und die Büros ihre Weihnachtsfeiern abhielten, fuhr die Nachtschicht oft nur auf verlassenen Straßen umher. London stand nach den Bombenattentaten noch immer auf wackeligen Füßen, zumal der neue Virus die Menschen dazu brachte, sich lieber zu Hause in Sicherheit auf das Fest einzustimmen.
    Cass schlug die Wagentür zu. Als er um die Ecke bog, konnte er das Motorengeräusch noch hören. Er fand es recht tröstlich, während er das mächtige Gebäude anstarrte. In den meisten Räumen war noch Licht. Selbstverständlich hatte es ihn hierhergezogen, um seine Gedanken zu ordnen – zum Hauptquartier Der Bank im alten MI 6-Gebäude. Wo sollte er auch sonst hingehen? Irgendwo da drin arbeitete Freemans Maulwurf fleißig weiter, und im Büro seines toten Bruders standen der Computer, die Akten und die Fotos eines anderen, als hätte Christian nie gelebt.
    Sein Atem dampfte und er tat sein Übriges, indem er sich eine Zigarette ansteckte. Als er die Hand aus der Tasche nahm, wurden seine Finger schnell taub vor Kälte, aber das war ihm egal. Der heiße Rauch tat gut. War Mr Bright gerade hier? Cass ließ den Blick an dem Turm hoch zu der geheimen Extra-Etage wandern. Wo war sie genau? Die Wohnung war ganz weit oben, das wusste er noch. Mr Bright zählte zu den Menschen, die gern den Überblick über die Welt und die Figuren in seinem Spiel behielten.
Es gibt keine Zufälle. Ein Rad im anderen.
Mr Bright und Mr Solomon und dazwischen eine Welt der Geheimnisse, in deren Mitte irgendwie die Familie Jones und vor allem Luke standen. Luke: der gesichtslose Junge, der fremde Verwandte.
    Er schniefte kräftig, weil seine Nase lief. Im Augenblick zählte für ihn nur, den Jungen zu finden, doch was hatte er dann eigentlich mit ihm vor? Wollte er ihn großziehen? Ein Bulle auf der Flucht und ein Waisenkind – das klang eher nach einem schlechten Hollywoodfilm und konnte in der wirklichen Welt nicht funktionieren. Warum tat er das alles? Er war nicht zum Vater geboren, das wusste jeder; vielleicht hatten sie es einfach nicht im Blut. In der Familie Jones gab es ohnehin nicht viel Gutes. Sein Vater hatte seinen Enkel weggegeben, um seine eigene Freiheit zu schützen, und Cass hatte kaltblütig einen Jugendlichen erschossen. Er schnippte die glühende Zigarette auf den glatten dunklen Bürgersteig und steckte die Hände wieder in die Manteltaschen. Der letzte Gedanke war nicht ganz richtig.
    Er sah an den schlanken Linien aus Metall und Stahl hoch, die in der Nacht funkelten: Die Bank sah aus wie eine himmlische Festung, die einer zerschlagenen Welt Hoffnung brachte. Aus den Schatten flüsterten die Geister Cass etwas zu. Christian Jones war ein guter Mensch gewesen – das weiße Schaf in ihrer Herde. Als sein jüngerer Bruder noch am Leben war, hatte Cass sich damit nicht beschäftigt, doch jetzt war er sich umso sicherer, und darum musste er auch den Jungen finden. Für seinen toten kleinen Bruder, der ihn darum gebeten hatte. Was danach kam, würde sich finden. Er war es Christian schuldig – schon allein wegen Jessica. Cass wandte dem Gebäude, das mittlerweile sein Schicksal bedeutete, den Rücken zu und ging zu dem

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