Der Atem der Apokalypse (German Edition)
nirgends mehr das Gefühl dazuzugehören. Wo lebte er eigentlich genau? War er selbst schon zu einem der Gespenster geworden, die ihn seit Langem heimsuchten?
Gegen halb zwölf verließ er das Zimmer, um die Melancholie in einem Drink zu ertränken. Im Erdgeschoss drang warmes Licht durch eine halb geöffnete Tür. Drinnen saß Brian Freeman in einem alten Lehnstuhl und sichtete vergilbte Zettel aus den Bergen von Kartons, die er um sich herum aufgebaut hatte. Er war so beschäftigt, dass er Cass nicht bemerkte. Der Anblick erinnerte Cass an Dr. Cornell. Er trank seinen Brandy und murmelte schließlich: »Lies dir bloß nicht den ganzen Mist da durch. Du willst doch nicht enden wie der verrückte Professor.«
»Das kann mir nicht passieren, mein Sohn.« Freeman hob den Blick und lächelte. Die Lesebrille passte überhaupt nicht zu seinem zerschlagenen Gesicht. »Ich will nur eine gewisse Ordnung in das Chaos bringen – eine sinnvolle Ordnung, meine ich. Er hat uralte Sachen gesammelt, Scheiße aus der ganzen Welt.«
»Ist mir auch schon aufgefallen.«
»Hilfst du mir ein bisschen?«
Cass überlegte. In diesen Kisten lagerten sicher viele Informationen, die ihn brennend interessierten – Zeiten, Ereignisse und Orte, zwischen denen man Verbindungen herstellen konnte und die alle mit dem Netzwerk zu tun hatten, wenn man sie mit Dr. Cornells Blick betrachtete. Das Erschreckende daran war, dass Dr. Cornell wahrscheinlich recht hatte: Cass hatte die X-Konten gesehen, Mr Bright persönlich kennengelernt und Mr Solomons Tod miterlebt. Mehr wollte er im Augenblick lieber nicht erfahren. Der Rest konnte warten, bis er Luke gefunden hatte.
»Lieber nicht«, sagte er. »Ich brauche einen klaren Kopf.«
Freeman nickte und konzentrierte sich erneut auf das Sortieren der Stapel.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum dich das alles so interessiert. Gut, du trauerst um deine Nichte, aber …«
»Mit Trauer hat das nichts zu tun, Charlie – Cass – wer auch immer«, sagte Freeman. »Ich lass mich nicht gern verarschen. Gerade du solltest das wissen.« Das Licht der Leselampe spiegelte sich in seiner Brille und schuf etwas, das wie ein spöttisches Abbild des Leuchtens wirkte, vor dem Cass nicht davonlaufen konnte, sodass er Freemans Miene nicht deuten konnte.
»Darin sind wir uns ähnlich, findest du nicht?«, fuhr dieser fort. »Wer uns verarscht, hat ein Problem.«
»Kann man wohl sagen.« Cass wandte sich mit einem halben Lächeln zum Gehen.
»Guckst du noch hoch?«
Die Frage erwischte Cass auf dem falschen Fuß und er sah sich noch einmal nach dem alten Gangster um. »Ja – ja, immer noch«, antwortete er dann mürrisch.
»Gut«, sagte Freeman mit Wärme in der Stimme. »Immerhin etwas, das ich in deinen Dickschädel getrimmt habe. Jetzt ab ins Bett, schlaf dich aus. Morgen haben wir viel zu tun.«
Er konnte nicht einschlafen; stattdessen lag Cass in der sirrenden Stille und starrte an die Decke. Er dachte darüber nach, wie sich die Welt drehte. Nie hätte er sich vorstellen können, dass er Brian Freeman einmal wiedersehen würde, ohne dass einer von beiden sehr schnell sterben würde. Und doch waren sie hier und trotz der verheerenden Folgen seines Undercover-Einsatzes in Freemans Welt spürte Cass das Echo seiner alten Zuneigung zu diesem Mann. Natürlich war es nicht wie früher, dafür hatten sie sich beide zu sehr verändert, doch das Gefühl war immer noch da.
Als er blinzelte, sah er braune Augen vor dem Lauf einer Pistole. Diesmal lag nicht nur Angst in ihrer endlosen Feuchtigkeit, sondern Trauer und Enttäuschung. Nicht zum ersten Mal fragte Cass sich, ob Freeman ihn wirklich zum Mörder gemacht hatte oder ob er nicht schon immer einer gewesen war. Wie viele andere Polizisten hätten getan, was er getan hatte?
Die Frage hatte er sich in den letzten Jahren schon hundert Mal gestellt. Er war immer zu dem Schluss gekommen, dass es keinen Unterschied gemacht hätte, wenn er sich anders verhalten hätte. Irgendwer hätte den Jungen erschossen und sobald er tot gewesen war, hätte Freeman sich gewundert, warum ein Mann wie Charlie nicht selbst abgedrückt hatte. Der Junge wäre so oder so tot und der Polizist dann eben auch.
Cass hatte das einzig Mögliche getan, um sein Überleben zu sichern. In der kalten Dunkelheit dieser Nacht war ihm das völlig klar, doch was ihn wach hielt, war die Frage, ob Überleben immer die richtige Entscheidung war. Zum ersten Mal, seit er bei Brian Freeman wohnte,
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