Der Atem der Apokalypse (German Edition)
er sie vor vielen Monaten unter dem wachsamen Blick des Geistes seines toten Bruders zum ersten Mal im Haus seiner toten Eltern durchgesehen hatte, waren dort sonderbare Arztkarteien abgelegt. Damals hatte er nicht verstanden, warum Luke so viele medizinische Tests durchlaufen hatte oder warum eine Notiz auf »sekundäre« ärztliche Protokolle im Angestellten-Ordner Der Bank verwies.
Doch jetzt begriff er, dass diese »sekundären« Karteien sich auf den Jungen bezogen, den er jahrelang für seinen Neffen gehalten hatte, das arme Kuckucksei im Nest der Jones. Diese verborgenen Aufzeichnungen betrafen das gestohlene Baby: den
echten
Luke.
Er las sie immer wieder durch, bis er nur noch verschwommen sehen konnte, aber nirgends entdeckte er einen Hinweis darauf, wo sich der Junge aufhielt. Er sah nur eine Reihe von Daten und Tests, die er nicht verstand. Er schloss den gesamten Ordner und biss die Zähne zusammen. Irgendwo musste doch etwas zu finden sein. Er trommelte mit den Fingern auf das Mauspad und weigerte sich, enttäuscht aufzugeben. Er konnte es sich nicht leisten, auch nur den kleinsten Hinweis zu verpassen.
Als er den Laptop gerade quer durchs Zimmer werfen wollte, entdeckte er etwas in einem Unterordner mit der Bezeichnung VERSCHIEDENES , der sich in einem Ordner befand, in dem Haushaltsausgaben aufgelistet waren. Er hätte beinahe gelächelt. Mr Bright war wirklich ein schlauer Fuchs, das musste er ihm lassen. Sogar Cass, der doch danach suchte, hätte es beinahe nicht gefunden.
Er starrte auf die Liste. Der erste Ausgabenposten lief unter GEBÜHREN und er dachte erst, es handelte sich um dämliche Anwaltskosten. Doch dann sah er sich die Daten an. Die Zahlungen liefen über mehrere Jahre, jeweils Anfang September, im Januar und Mitte April. Die letzten Zahlungen summierten sich auf dreizehntausend Pfund. Cass wandte den Blick nicht von den Zahlen, bis es ihm dämmerte: GEBÜHREN .
Schulgebühren.
Luke war zwar erst acht Jahre alt, doch er wohnte nicht bei Mr Bright. Also musste sich jemand um ihn kümmern, und als er jetzt darüber nachdachte, konnte er sich gut denken, dass jemand wie Mr Bright den Jungen in die beste private Vorschule stecken würde. Zweifellos lebte er im Internat.
Aber was machte er in den Ferien
, überlegte Cass.
In der Schule bleiben?
Es gab sicher nicht viele andere Kinder, die in der Schule zu Hause waren. Was für ein einsames Leben für einen kleinen Jungen – möglicherweise gab es überhaupt keine anderen Kinder!
Ihm tat das gesichtslose Kind, das von seinem eigenen Großvater verschachert worden war, aus tiefster Seele leid. Er lehnte sich zurück und ließ seine verletzte Schulter kreisen. Seit wann hing er über dem Laptop? Auch in den anderen Zimmern war noch Licht, aber das Lachen war verebbt, und er arbeitete leise weiter. Er fühlte sich, als wäre er gerade erst aufgewacht.
Schulgebühren
– verborgen in Angestelltengehältern und Wäschereirechnungen – wieso? Die Stimme seines Bruders flüsterte ihm die Antwort zu:
Die anderen dürfen nichts erfahren.
Cass sah unverwandt auf den Computer. Wenn er woanders hinschaute, würde er Christians auf Hochglanz polierte Halbschuhe sehen, wie üblich mit roten Blutflecken. Die letzten Monate, in denen er allmählich begriffen hatte, dass der Junge zu Hause nicht sein Sohn war, mussten schrecklich für ihn gewesen sein. Das war wieder ein Beispiel dafür, wie verschieden die Brüder waren: Cass hätte damit nicht leben können. Er hätte Nachforschungen anstellen
müssen
, egal, welche Folgen das gehabt hätte. Und darum hatte Christian ihn natürlich auch von jenseits des Grabes damit beauftragt. Er wusste, dass Cass immer weitermachen würde, ob nun jemand dabei unter die Räder kam oder nicht. War Christians Geist deshalb verschwunden?
Er
ruhte jetzt in Frieden und Cass konnte nicht mehr schlafen.
Er konzentrierte sich wieder auf die Zahlen. Die Zahlungen, die alle drei Monate erfolgten, waren vor ungefähr anderthalb Jahren eingestellt und durch eine monatliche Überweisung von gut dreitausend Pfund ersetzt worden. Er runzelte die Stirn. Selbst wenn Luke von einer Vorschule in eine Grundschule versetzt worden wäre, würden die Gebühren doch immer noch per Trimester bezahlt, oder nicht? Er schrieb sich die Kontonummer auf und ging die anderen Dateien durch, um weitere passende Informationen zu finden. Cass hätte schrecklich gern mit Perry Jordan darüber gesprochen – er hatte Freunde, die Zugang zu
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