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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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wahr ist, woran ich mich noch erinnere, weiß ich nicht, aber es kam mir so vor, als hätte sie mich, während sie tanzte, keine Sekunde aus den Augen gelassen, auch nicht, als der Verlobte kam und ihr seinen Arm um die Taille legte. Aber dann wartete ich, und sie kam nicht mehr an unseren Tisch zurück. Schließlich verlor ich sie in der Menge und ging mit leichten Hassgefühlen auf sie nach Hause.
    Danach hielt ich mich von ihr fern. Sie brachte mich zu sehr aus dem Gleis. Ich fuhr wieder zur See, und nachts im Logis betrachtete ich bei Kerzenlicht meine Audubon-Vögel. Irgendwo ergatterte ich ein Zeichenheft, wie Skip eines hatte, und jedes Mal, wenn Ishbel sich mir in den Kopf schlich, fing ich an, so sorgfältig ich konnte, die Bilder zu kopieren. Das half mir, einen klaren Kopf zu bekommen, ein Vorhang senkte sich dann zwischen mir und meinem elend rastlosen Verstand. Ich wusste nicht, ob meine Zeichnungen etwas taugten. Aber mir gefielen sie. Wenn ich an Land war, machte ich mich über Dan
Rymers Bücherschränke her und griff mir jedes Buch mit Vogelbildern. Mr Jamrach schenkte mir die Naturgeschichte der Stubenvögel von J. M. Bechstein. Meine Zeichnungen vermehrten sich: Lerche, Hänfling, Rosenköpfchen, Waldschnepfe. Ich liebte die Details. Zeisig, Nachtigall, Distelfink, Wellenastrild. Doch sie wollte einfach nicht verschwinden. Ich zeichnete jeden bekannten Vogel der Welt. Tigerfink, Turteltaube, Buchfink, Dompfaff. So hatte ich etwas zu tun, es füllte meine Zeit aus und bereitete mir durchaus auch Vergnügen. Ich zeichnete sämtliche Unterarten sämtlicher Vögel. Ich würde malen lernen müssen. Das könnte mich für den Rest meiner Tage beschäftigt halten.
    Im stummen Vogelraum bei Jamrach saß ich und zeichnete. Die Vögel auf meinen Blättern waren jedoch frei. Ich versah sie mit einem Lebensraum als Hintergrund: Seen, in denen sich Schlösser spiegelten, blumenkohlartige Wälder, Berge wie Vulkane. Auf der Insel Sumba hatte ich Bambushäuser für Singvögel gesehen und einen Käfig wie ein Puppenhaus und in Alexandria einen in Diamantenform. Ich hatte einen Elfenbeinkäfig gesehen und einen aus Glas. Tempel und Paläste, Fässer und Glocken, sechseckige, achteckige, kuppelförmige.
    Jamrachs Käfige waren Gefängnisse. Ich stellte mir vor, wie diese armen kleinen eingesperrten Federbällchen in meinen taubengrauen Bleistiftlandschaften frei herumschwirrten. Ihr armen Dinger, dachte ich, jetzt seid ihr hier, und es gibt kein Zurück für euch. Ich werde euch ein paar hübsche Häuschen konstruieren. Und ich zeichnete Käfige mit Dächern, die sich aufklappen ließen, und solche, die eine Tür an der Seite hatten. Raum. Obergeschosse zum Schlafen. Dazwischen könnte es eine Leiter geben, Leitern würden ihnen gefallen.
    Dann dachte ich: Wieso gibt es eigentlich keinen Laden, in dem all die Vögel herumfliegen können? So etwas wie eine Voliere? Einen Innengarten mit einer Laube und einem gläsernen
Dach und Pflanzen, die in geschlossenen Räumen wachsen. So einen, wie reiche Menschen ihn besitzen, nur dass es eben ein Laden wäre, und die Leute könnten hereinkommen und einen Vogel kaufen. Man könnte eine kleine Wildnis bauen. Mit Felsen und Flüssen und Bächen und Fischen und Vögeln und sogar ein paar kleinen Säugetieren – Wühlmäusen und Siebenschläfern vielleicht. Und alle würden sich frei bewegen. Wasserfälle und Teiche. Bäume .
    Die Menschen würden Eintritt bezahlen, um eine halbe Stunde lang durch das Paradies zu wandeln. Fließende Brunnen und immerwährendes Glück. Schattige Plätze zum Sitzen. Ein Baumkronenpfad. Grüne und gelbe Sittiche, die überall herumhuschten.
    »Damit würdest du niemals Geld verdienen«, meinte Jamrach, als ich ihm meine Skizzen von der Wildnis zeigte.
    Gerade war eine Wagenladung Kanarienvögel aus Norwich gekommen, Kanarengirlitze und Rückengeschuppte. Die Jungs luden sie aus und stapelten die Wellenastrilden ein oder zwei Regale höher, um Platz zu schaffen.
    »Aber hübsche Käfige«, ergänzte er und blätterte durch die Seiten. »Die könntest du verkaufen.«
     
    Ein wenig Laudanum sagt mir zu. Hin und wieder. Ein wenig Absinth mit Zucker. Das verhilft zu kleinen Traumausflügen. Träume sind nicht real, haben aber etwas ausgesprochen Scheinrealistisches; und sie produzieren Gefühle; und sie verändern das Bild, das die Dinge am nächsten Tag bieten. Als ich einmal völlig versunken einen Zeisighals weich zu schattieren versuchte, sah ich

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