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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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einfach.
    Die Drago war einmal ein stolzer kleiner Fischkutter gewesen, groß genug für drei oder höchstens vier Männer, mit einem Segeltuchdach, das übers halbe Schiff reichte, und einer Kiste am einen Ende, wo die Fische hineinkamen. Jetzt bewahrten wir unser Bier dort auf. Die Bänke waren weg, aber wenn es nicht zu nass war, konnten wir auf dem Boden sitzen, das Holz des alten Wracks zwischen den Fingern zerkrümeln und die schnellen schwarzen Käfer beobachten, die aus seinen mürben Tiefen auftauchten. Als wir noch kleiner waren, spielten wir hier immer. Er der Vater, sie die Mutter, ich das Kind. Er Kapitän, sie erster Offizier, ich der Schiffsjunge. Und, am schönsten, ich der Räuber, sie die elegante Dame, er der Gendarm. Diese Spiele hatten unsere Fantasie beflügelt, gemeinsam erfanden wir Geschichten von Monstern und von Tierwesen, die noch fremdartiger waren als alle, die wir jemals bei Jamrach gesehen hatten. Wir ritzten ihre Bilder in die Innenwände des Boots und gaben ihnen Na
men wie Mandibat und Camalung und Koriol, und wir kannten all ihre Gewohnheiten, ihre Eigenschaften und Besonderheiten. Monströse Tiere mit Höckern kamen aus der Mündung der Themse, langsam und heiß, mit hervorschießenden gegabelten Zungen. Im Geiste sahen wir diese Wesen alle drei gemeinsam vom Bug der Drago aus, während wir übers Wasser schauten.
    Aber wir waren seit Ewigkeiten nicht mehr dort gewesen.
    Sie hatte vier Erdbeeren dabei, eingewickelt in einen feuchten Stofffetzen. »Hol das Bier, Jaff«, sagte sie.
    Wir saßen im Bug und teilten die Beute. Ich weiß nicht, woher die Erdbeeren stammten. Sie hatte sie noch nicht, als sie in die Seemannskapelle ging, erst als sie herauskam, weshalb sie sie da drinnen womöglich jemandem gestohlen hatte.
    Jeder zwei, reif und saftig, im Nu weg.
    »Möchte mal wissen, wo Tim hin ist«, meinte ich.
    Sie zuckte die Achseln und reichte mir das Bier. »Glaubst du, dass wir ihn verärgert haben?«, fragte sie.
    »Wahrscheinlich.«
    »Er wird drüber wegkommen.« Sie leckte sich ihre Erdbeerlippen.
    »Und außerdem«, sagte ich, »kümmert es ihn ja auch nicht, wenn er andere ärgert.«
    Lächelnd meinte sie: »Er ist nicht mit Absicht ein Schwein.«
    »Ich weiß. Er ist es einfach nur.«
    Wir lachten.
    »Er war schon immer eifersüchtig«, bemerkte sie.
    Die Flasche war nass von ihrem Mund. Ich nahm einen ordentlichen Schluck.
    »Ich gehe heute Abend nicht arbeiten«, sagte sie. »Hab keine Lust. Sie kann es mir doch nicht befehlen, oder?«
    »Dann kriegst du aber Ärger.«
    »Na und?«
    »Sie wird dich verdreschen«, sagte ich.
    Das machte Ishbel manchmal, hatte dann einfach keine Lust auf das Theater mit dem Sichzurechtmachen. Sie wurde sehr verwöhnt und gehätschelt, aber ebenso viel herumgeschubst und auch geschlagen. Einmal hatte sie erklärt, sie werde sich für die Arbeit nur umziehen, wenn ihre Mutter ihr einen Kuchen backe, und als der fertig war, klatschte sie ihn auf ihr schönstes Kleid, das, bereit für den Abendauftritt, über einer Stuhllehne hing und darauf wartete, dass sie hineinschlüpfte.
    »Du mieses kleines Biest!«, hatte ihre Mutter gekreischt. »Weißt du, wie lange ich dafür gebraucht habe!« Und sie hatte ihr eine schallende Ohrfeige versetzt, worauf Ishbel in Tränen ausbrach.
    Tim dagegen wurde nie geschlagen.
    »Es ist mir egal, ob sie mich verdrischt«, sagte Ishbel und griff nach der Flasche.
    »Nein, ist es nicht.«
    »Ach«, sagte sie, »ist doch sowieso egal. Ich gehe nicht. Ich bleibe hier, bis es dunkel ist.«
    »Im Dunkeln kannst du nicht über die Mauer zurückklettern«, wandte ich ein. »Wenn du bis abends hier bleibst, musst du die ganze Nacht bleiben.«
    »Das werde ich auch«, schrie sie und sprang grinsend hoch, »die ganze Nacht!«
    »Ich auch!« Ich stand auf.
    Sie gab mir die Flasche und vollführte einen komischen Tanz, wedelte mit den Armen und steppte wie wild. Ich hatte schon Angst, die morschen Bohlen würden brechen und wir würden ins dreckige, kalte Wasser rutschen.
    »Hör auf«, sagte ich, »wenn du tanzen willst, kannst du genauso gut zur Arbeit gehen.«
    Sie hörte auf. Zog die Schultern hoch. »Wir können nicht«, sagte sie, »es ist zu kalt.«
    »Was?«
    »Können nicht die ganze Nacht hier bleiben. Wir würden erfrieren.«
    Das stimmte.
    »Ich weiß«, sagte sie, »wir werden einfach so lange herumlaufen, bis es richtig spät ist.«
    Offenbar ging sie von meiner Begleitung aus. Ich musste zurzeit nicht abends

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