Der Atem der Welt
gegenüber, grinsten wie verrückt, und die Welt stieg und sank, stieg und sank, und das Boot stand wie eine bemalte Mondsichel am Himmel. Das Gemurmel der Menge schwoll an und ab. Es wurde gelacht, von mir und ihr. Auf ihrer Wange war noch ein Rougefleck, von ihrem Nachmittag in der Malt Shovel, wo sie immer in blutroten Schuhen mit Messingabsätzen tanzte und die Männer den Takt klatschten. Als wir ausstiegen, war Tim nirgends zu sehen. Einen Moment lang standen wir da, sagten nichts und registrierten es nur. Ich war noch nie mit ihr allein gewesen.
Sie zuckte die Achseln, legte mir einen Arm um die Schultern und zog mich weg vom Jahrmarkt und hinaus auf die Straßen, als wäre ich ihr kleiner Bruder. Sie war so viel schneller gewachsen als ich. So ist das mit Mädchen.
Wortlos wanderten wir auf Umwegen zu ihr nach Hause. Ein fetter Mann, alt und runzlig und mit schrecklichen Brandverletzungen, hatte an der Ecke der Old Gravel Lane einen »Glückliche Familie«-Käfig aufgestellt. Darin hielt er Haselmäuse, zusammen mit einer Katze, einer Ratte und einer Eule, und alle wohnten sie da drin und scherten sich nicht umeinander. Ishbel sagte, das sei ja wie der Löwe, der beim Lamm liegt, aber ich wusste, wie sie es machen. Sie tun was ins Futter, wovon die Tiere schläfrig werden. Doch das verriet ich ihr nicht. Draußen vor der Seemannskapelle kaufte sie mir ein Ingwerbier und sagte, ich soll warten, während sie drinnen Kerzen für die Jungs ansteckt. Die Jungs waren zwei ihrer Brüder, die lange vor ihrer Geburt auf See geblieben waren. Die makellosen Heiligen nannte Tim sie mit leicht spöttischem Unterton. Im Haus erinnerte
nichts mehr an sie, aber als Geister waren sie immer noch gegenwärtig, wie zwei unsichtbare gütige Engel, und hin und wieder, wenn Mrs Linver alle Pflichten erledigt hatte und am Kamin saß, nahm sie ihre Brille ab, putzte sie traurig, wischte sich ein paar Tränen ab und verfluchte das Meer. Und trotzdem wollte Tim zur See fahren. Konnte es gar nicht erwarten. Dort sei das wahre Leben, sagte er. Sobald Dan Rymer ihn nehme, sei er auf und davon. Das Ingwerbier war gut und scharf. In der Straße roch es nach Fisch und Lavendel. Ein Zuckerwagen mit einem x-beinigen braunen Pferd an der Deichsel fuhr ächzend vorbei. Der Wind trug das Geräusch von Gehämmer und Gesang herüber, die Sonne war warm, ich schloss die Augen und dachte daran, wie Ishbel sich auf ihren Absätzen drehte, ihre Röcke fliegen und kurz eine Fessel aufblitzen ließ, während die ärmlich gekleideten Matrosen ihr Pennys zuwarfen. Wenn sie Wäsche wusch oder Wasser von der Pumpe heranschleppte oder mit Tim und mir auf den morschen Kais herumsprang, war sie ein Wildfang mit verfilztem Schopf, aber während der Arbeit war sie eine kleine angemalte Frau mit Blättern im Haar, die auf einer Bühne tanzte und den Matrosen Küsschen zuwarf.
Ich warte doch hier draußen nicht wie ein vergessener Berg Wäsche, dachte ich und folgte ihr in das Gebäude. Ich war noch nie drinnen gewesen. Eine Menge Leute saßen in den Bänken, eine Frau zündete gerade eine Kerze an. Ishbel betrachtete die Gemälde: Jephta und seine Tochter; Jonah, der am Ufer ausgespuckt wird; Hiob und seine brennenden Schwären. Ein Wörterbogen über den Bildern besagte: Ich bin ein Bruder der Drachen und ein Geselle der Eulen.
Sie kam zu mir und packte mich am Arm. »Los, komm«, flüsterte sie, »ich habe Erdbeeren.«
»Du warst ewig weg«, sagte ich.
»Armer Jaffy.« Sie zauste mein Haar. »Hast du dich gelangweilt?«
Sie behandelte mich häufig wie einen Hund. Wenn man sagt, jemand wird wie ein Hund behandelt, heißt das gewöhnlich, er werde herumgestoßen, ausgesperrt und weggescheucht, aber in diesem Fall traf das nicht zu. Ishbel mochte Hunde. Mit der Zeit begann sie mit mir herumzuspielen, sobald sie mich sah, und kitzelte mich hinter den Ohren, etwas, das sie auch mit jedem Köter tat, der ihr auf der Straße begegnete, und ich hatte überhaupt nichts dagegen.
»Komm, wir gehen zum Schiff«, sagte sie.
Jetzt stolperte ich nicht mehr hinterher, sondern ging, genau wie Tim, neben ihr. Ein Wrack mit Namen Drago lag schief am Themseufer in einem Bachbett, das schon seit langem durch Abwässer verschlammt war. Zu erreichen war es nur, wenn man von der Seite her über eine glitschige schwarze Mauer heranrobbte, die an manchen Stellen Haken hatte. Wenn man die Schuhe auszog und sie sich um den Hals hängte und nicht zu tief einatmete, ging es
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