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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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riechen.
    Ishbel lief, die Hände hinterm Rücken gefaltet, mit leicht schwingenden Schritten. Tim und sie hatten seit dem Verlassen des Hauses kaum ein Wort gewechselt. Nachdem wir ein Stück geschlendert waren, blieben wir beim Rutschigen Pfahl stehen, von dem die ganzen Trottel herunterfielen.
    »Geh du da drauf, Jaff«, sagte Tim.
    »Keine Chance«, meinte ich.
    »Feigling«, sagte er.
    »Geh du doch!«
    »Wieso denn? Hab ich doch schon millionenmal gemacht.«
    »Ha!«, sagte Ishbel.
    Tim lächelte. Kleine Pavianfältchen erschienen rechts und links neben seiner Nase.
    » Du gehst auf das verdammte Ding, Tim«, sagte sie, » du bist doch so schlau. Lass ihn in Ruhe.«
    »Er braucht das«, sagte er. »Muss ein bisschen angeschubst werden. Stimmt doch, oder?« Und er schubste mich ein bisschen, nicht besonders stark, gerade so viel, dass er noch, wenn ich mich beklagt hätte, sagen konnte, es sei doch nur Spaß. »Stimmt doch?«
    »Er braucht keinen Schubs von dir«, erklärte sie barsch. »Wer würde denn wollen, dass man ihn schubst?«
    »Er. Stimmt doch, oder. Siehst du? Los, Jaffy, los, mach. Du schaffst es. Die Kleinsten sind da immer am besten, das ist eine bewiesene Tatsache. Versuch's einfach. Du brauchst nur eine Minute oben zu bleiben, und du kriegst das Geld. Das ist doch das Gute.«
    Nein, mein Lieber, ich nicht. Ich bin doch kein Trottel.
    Und doch befand ich mich plötzlich irgendwie auf der Holztreppe, die zum Schwanzende des Rutschigen Pfahls führte. Der Pfahl war lang und scheckig und rund, wie ein ausgestrecktes Pferd mit dünnem Schwanz und gemaltem Kopf. Ich sah auf den Pferdearsch, aus dem ein paar traurige Fasern sprossen. Ich blickte in ein Meer von Gesichtern, die alle vergnügt darauf warteten, dass ich mich selber zum Arsch machte. Ich sah Tim, der sich grinsend abwandte, und den Saum von Ishbels Rock. Ich breitete die Beine aus, und fest überzeugt von meinem Sturz, hievte ich mich hoch, über den Pferdearsch und auf den rutschigen Pfahl. Es war, als würde man auf eine Schnecke klettern. Ich griff mit den Händen vor mich, fasste in Schleim, schob mich vorwärts und saß für einen kurzen starken Moment mit hochgerecktem Kopf oben, ehe der Pfahl mich herumrollte. Jetzt hing ich auf lächerliche Weise, mit den Haaren nach unten, zum Fallen verurteilt, wie ein Tropfen am Wasserhahn. Dann plumpste ich mit dem Rücken in die Sägespäne, strampelte wie ein Trottel mit den Beinen, und die Menschen brüllten vor Lachen.
    Mit roten Ohren stapfte ich durch die an mir schon nicht mehr interessierte Menge, vorbei an seinem Grinsen und ihren braunen Augen. Nur weg. Er rannte hinter mir her und packte mich am Ellbogen. »Sei doch nicht albern, Jaffy«, sagte er, als er mein Gesicht sah.
    Ich wünschte ihn zur Hölle.
    »Sei kein Baby, es ist doch nur Spaß. Ich hab es gemacht. Sie hat es gemacht. Hat ihren Schlüpfer und alles gezeigt. Stimmt doch, Ish? Was hast du bloß, Jaffy?«
    Eigentlich nichts. Alle fielen vom Rutschigen Pfahl herunter, dafür war er da. Nur, dass Tim wieder das getan hatte, was er immer tat, er hatte mich lächerlich gemacht. Und dass ich seinem Befehl gefolgt war. Es war aus Wut über mich selbst, dass ich ausholte und ihn mitten in sein dummes, selbstgefälliges Gesicht schlug. Und außerdem war diese Geschichte der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
    »Aua!«, brüllte er.
    Er blutete nicht einmal. Das machte mich nur noch wütender. Er schlug nicht zurück, das war noch schlimmer, die endgültige Beleidigung. Ich holte erneut aus und zwang ihn, sich zu verteidigen. Wir prügelten uns, ich den Tränen nah, bis eine Frau hinter einem Pastetenstand hervorkam und einen Eimer Wasser über uns kippte, als wären wir Hunde. Alle drei rannten wir weg.
    Wir blieben stehen, wo die Schiffschaukeln zu der gewölbten Tunneldecke hochflogen.
    »Komm, Jaffy«, sagte Ishbel und strich mir sanft über die hängenden Schultern, »wir fahren damit, du und ich.«
    »Was heißt das?«, schrie Tim. »Wir haben doch nur zwei Pennys. Wer bezahlt denn für ihn?«
    »Ich, du Scheißkerl«, sagte sie.
    »Das heißt also, ich kann nicht da rauf!«
    »Huu-huu-oh-weh!« Sie schob ihr Gesicht vor seins. »Du bist
ein grausames, gemeines, garstiges, hässliches Schwein, das bist du, Timmy Linver! Ganz genau.«
    Und sie packte mich und zog mich zu einer rotblauen Schiffschaukel, die gerade frei geworden war.
    Ich war noch nie Schiffschaukel gefahren. Ishbel und ich standen einander

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