Der Atem der Welt
dran.«
»Nein.«
»Das sehe ich. Du solltest dich jetzt lieber fertig machen.«
»Du kannst mich nicht zwingen. Niemand kann mich zwingen.« Ishbel sah zu mir herüber, mit Schalk in den Augen,
und lächelte plötzlich. Du verstehst mich wenigstens, sagte ihr Blick.
Ihre Mutter hatte sich abgewandt, fuhr jetzt aber herum. »Meine Geduld ist erschöpft«, erklärte sie scharf. »Los. Ab mit dir.«
»Ich geh nicht.« Ishbel kippte den ganzen Gin auf einmal herunter und patschte sich auf die Lippen.
»Sei nicht so empfindlich«, sagte Tim. »Ist doch nur Arbeit. Wir müssen alle arbeiten.«
»Ich arbeite, wenn ich Lust dazu habe«, erklärte sie.
»Wenn du heute Abend nicht hingehst, brauchst du dort gar nicht mehr zu erscheinen.« Ihre Mutter packte ihren Arm und versuchte, sie vom Stuhl hochzuziehen, aber Ishbel lachte nur und hielt sich am Tisch fest. Erst als er zu schwanken und zu kippeln begann, weil Tim und ich uns auch festhielten, und alles darauf umfiel und Brühe durch die Gegend spritzte, erst da ließ sie endlich los und ließ sich von ihrer Mutter hochziehen.
»Ich geh nicht, du blöde Kuh!«, schrie sie ihr aber direkt ins Ohr.
Mrs Linver zuckte zusammen und rieb sich den Kopf.
»Ich bin müde!«, kreischte Ishbel. »Ich habe keine Lust zu tanzen, kannst du das nicht in deinen blöden Kopf kriegen?«
»Das ist ja gefährlich!«, schrie ihre Mutter zurück. »Damit kannst du einen regelrecht taub machen!«
»Ist mir doch egal!«
Und jetzt schlug ihre Mutter zu. Wie sie es ständig tat. Niemals schlug sie Tim, obwohl sie ihm immerzu damit drohte. Ich hatte schon eine Menge solcher Szenen erlebt, aber diesmal war es anders. Diesmal schlug Ishbel zurück. Das ging schnell, eine Sekunde, und die Brille ihrer Mutter hing schief, und die Augen ihrer Mutter lagen frei. Wir hielten die Luft an. Ishbel begann zu weinen und fiel neben den Knien des alten Mannes auf den Boden. Er richtete seinen milden Blick auf ihren Schei
tel und schabte sanft an den Schwanzschuppen seiner neuesten Nixe.
Mrs Linver nahm ihre schief hängende Brille ab. Ihr Mund bebte, ihre ergeben zusammengekniffenen Augen wirkten geschwollen. Mit zitternden Händen putzte sie die Gläser mit ihrer Schürze und schaute uns an, auf traurige Weise blind.
»Oh Mama!«, rief Tim, sprang hoch, lief zu ihr und umarmte sie.
»Eines Tages wirst du es begreifen, du selbstsüchtiges Mädchen«, sagte Mrs Linver mit zittriger Stimme.
Ishbel fuhr hoch, das Gesicht tränenverschmiert. »Ich weiß, ich weiß, ich weiß«, erwiderte sie barsch.
»Alles in Ordnung, Mama«, sagte Tim. »Hör auf, sie zu ärgern, Ish. Jetzt ist alles wieder gut, Mama.«
»Ja ja ja, natürlich natürlich natürlich.« Ish lächelte theatralisch und sprang auf. »Zeit für die Arbeit! Zeit für die verdammte Arbeit.« Und schon war sie im Nebenzimmer verschwunden.
Sie war ziemlich mürrisch, als wir sie zwanzig Minuten später zur Arbeit begleiteten. Sie hatte zu viel Puder aufgelegt, um den roten Fleck von der Ohrfeige auf ihrer Wange zu kaschieren, und ihre Lippen waren zu grell. »Du bist nie auf meiner Seite«, sagte sie zu Tim.
»Das stimmt nicht.«
»Du bist immer auf ihrer Seite.«
»Was soll ich denn machen? Ich muss doch auch arbeiten. Ich stehe manchmal schon um vier Uhr früh auf. Jaff genauso. Alle müssen arbeiten.«
»Ich bin es so leid«, sagte sie und stieß mit dem Fuß gegen einen Stein. Als sie wieder hochschaute, glänzten ihre Augen. Ich legte die Arme um sie. »Ich warte auf dich und bring dich nach Hause, wenn du Schluss hast«, sagte ich.
»Nicht nötig.« Tim schubste uns.
Sie umarmte mich. »Vielen Dank, Jaffy.« Weiße Staubflusen
von ihrem Puder gerieten mir in die Nase, so dass ich beinah niesen musste. Sie sah aus wie eine Puppe. »Du bist sehr edel.«
»Edel?«, schnaubte Tim.
Ich hätte sie gern weiter festgehalten. Aber ich ließ sie los.
Er ging um sie herum und baute sich direkt vor ihr auf, ohne etwas zu sagen. Er blickte ihr nur sehr lange in die Augen, rau und zärtlich. Irgendetwas geschah zwischen ihnen, irgendein Bruderschwesterding, von dem ich ausgeschlossen war. Er stand da mit hochgezogenen Schultern und hängender Unterlippe. Sein Gesicht wirkte plötzlich irgendwie alt. Ich hätte nicht sagen können, woher das kam. Sie wurde sichtlich weicher.
Den Rest des Weges gingen wir jeder für sich. An der Tür der Malt Shovel drehte sie sich zu mir um und sagte: »Du kannst gern nach Hause gehen, Jaffy. Vielen
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