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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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lieben Dank.«
    »Sie muss jetzt wirklich rein«, sagte Tim.
     
    Mama war nicht da, als ich nach Hause kam. Ich weiß noch, dass ich mir Dan Rymers Fernrohr herunterholte, es aus dem Fenster hielt, mir die Watney Street ansah und in der zunehmenden Dunkelheit allerlei Dinge heranzuholen versuchte: bestimmte Einzelheiten – ein Gesicht, eine Katze, eine Artischocke, eine glitzernde Pfütze unter der Pumpe.
     
    Vor sehr langer Zeit fiel Dans Fernrohr auf den Meeresgrund. Wär schön, ich hätte es noch. Es war ein prachtvolles Stück – die Maserung im hochglanzpolierten Mahagoni, die Lackierung der Messingteile. In den silbernen Sonnenschutz war ein Federmuster graviert. Das Fernrohr, das ich jetzt besitze, ist robust und schlicht, an seiner Schärfe ist jedoch nichts auszusetzen. Ich beobachte Vögel, und in bestimmten Nächten beobachte ich durch das Netz über dem Garten die Sterne. Auf See habe ich sehr viel über die Sterne gelernt. Auf die Sonne und den Mond kann man sich nicht verlassen – sie machen manchmal
komische Sachen –, aber auf die Sterne kann man sich unbedingt verlassen. Wenn man sie durchs Fernrohr betrachtet, beginnen sie zu flattern, wie kleine weiße Flügel, die in einem silbrigen Feuer brennen. Und wenn man hier unten mit der Linse ein Vogelauge heranholt, kann man den Glanz darin sehen, das Leben. Und manchmal rücken einem die Dinge dann so nah, dass man zusammenfährt.
    Genauso ist es, wenn man auf die Vergangenheit schaut. Sehr weit entfernt nur das Flimmern der weißen Flügel, nichts ist zu erkennen. Näher heran, Einzelheiten: die Takelage großer Schiffe, die ein Netz über den dunkelnden Himmel spannt. Hausdächer, scharf vorm inneren Auge, vergrößert. Und manchmal ein stechender Schmerz, ganz nah. Heute ist ein später Frühlingsabend. Die Schnitzerei in dem Knochen, den ich in Händen halte, rau zwischen den Fingern, erinnert mich an jene Federn, die in das alte Fernrohr graviert waren, das ich als Junge besaß, und ich erinnere mich an eine lang vergangene Nacht: Ein herrlicher Tag ist vorüber, das Herz pocht leise, ich komme nach Hause und weine und weiß nicht wieso, schwenke das allsehende lauernde Auge über die Dächer, denke an Ishbel. Sie ist auf der Bühne, grinst wie verrückt, fängt Münzen mit ihren kleinen, blutigen, pummeligen Händen auf. Sie singt Little Brown Jug, The Blind Boy At Play und The Heart That Can Feel For Another , und die betrunkenen Matrosen, sie lachen und weinen.

ZWEITER TEIL
    4
    So viel zu Jaffy, dem Kind. Lange war er es ja wirklich nicht gewesen! Was war er? Eine Art Schmetterling. Eine große Welle kam und riss ihn mit sich fort. Ein Tiger fraß ihn. Nur sein Kopf ist übrig geblieben, liegt auf den Steinen. Mag er sprechen. Mag er auf dem alten Ratcliffe Highway herumrollen, ein hungriger Geist, der seine Geschichte für alle herausbrüllt, die sie hören wollen. Ich weiß, wieso die Matrosen auf ihren Schiffen draußen auf dem Fluss so wunderschön singen, wieso meine empfänglichen Sinne weinten, wenn ich ihnen auf meiner Pritsche in Bermondsey lauschte. Ich fand es heraus, als ich fünfzehn war.
     
    Tim war jetzt eine große Nummer. Als Bulter heiratete und wegzog, hatte Jamrach erklärt, Tim sei zu intelligent für den Hof und zu verträumt, um mit Tieren zu arbeiten, also erledigten Cobbe und ich und ein neuer Junge alle Drecksarbeit, und Tim wurde Bürojunge und bekam mehr Geld. Er trug jetzt einen Kragen bei der Arbeit. Den stärkte seine Mutter jeden Abend. Inzwischen waren wir Freunde. Er konnte immer noch ein Schwein sein, aber er war einfach einer von der Sorte, der die Welt verzeiht. Manche sind so. Einmal redete ich drei Wochen lang nicht mit ihm, und er konnte es nicht ertragen, kam zu mir, sehr nobel und aufrecht, blickte mir ins Gesicht wie ein Mann und sagte, ich sei der beste Freund, den er jemals gehabt habe, der einzige echte. Das Leben ist kurz. Was soll man machen?
    Am Tag als wir von dem Drachen hörten, war er mit uns auf dem Hof und trat in der Kälte von einem Fuß auf den anderen. Der Assistent von Mr Fledge und Dan Rymer saßen schon den
ganzen Morgen im Büro und verhandelten über irgendetwas Bedeutsames. Sie hatten ihn hinausgeschickt, um ungestört zu sein.
    »Irgendwas ist im Gange«, verkündete er mehrmals wichtig und tat so, als wisse er Genaueres. Er trug Schmachtlocken in der Stirn, und seine Augen leuchteten. Sein Atem bildete Wolken in der Luft. Sie riefen ihn herein, nachdem Fledges

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