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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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arbeiten, konnte mich also, wenn ich wollte, bis zum Morgengrauen herumtreiben.
    »Komm, wir laufen nach Westen«, sagte ich, »am Tower vorbei und dann einfach die ganze Nacht immer am Fluss entlang und gucken, wo wir landen.«
    »Wir können im Gebüsch schlafen«, schlug sie vor, »und betteln. Du kannst ein Zigeuner sein und wahrsagen. Ich kenne ein Mädchen aus der Siamese Cat , die wahrsagen kann, es ist total simpel. Du siehst sowieso wie ein Zigeuner aus.«
    Da kam Tim pfeifend über die Mauer. Er konnte gut pfeifen. Zuerst hörten wir ihn nur, dann tauchten seine dreckigen nackten Füße über dem Verdeck auf, er ließ sich wie ein Frosch neben uns herunter, nachdem er seine Stiefel, die ihm um den Hals hingen, ins Boot geschleudert hatte. »Und? Was macht ihr Schönes?«, fragte er.
    »Wir hatten Erdbeeren«, sagte ich, »die hast du verpasst, aber es ist noch ein Rest Bier übrig.«
    Ishbel warf ihm die Flasche zu, er fing sie auf und nahm einen Schluck. Der Himmel sah aus wie immer, wenn er sich auf die Nacht vorbereitet.
    »Ich geh nicht zur Arbeit«, erklärte Ishbel.
    »Sag bloß.« Er leckte sich die Lippen, nahm noch einen Schluck und wischte den Flaschenhals fürsorglich mit seiner großen, schmuddeligen Hand ab, bevor er mir die Flasche reichte. Er tat so, als wäre nichts Besonderes zwischen uns passiert. Ein Vogelschwarm zog mit dem Getöse Hunderter Flügel über den Fluss.
    »Ich hab Hunger«, sagte ich, »ich könnte ein Pferd verdrücken.«
    »Gute Idee«, sagte Ishbel.
    »Noch Bares da?«, fragte Tim.
    Sie schüttelte den Kopf. »Alles ausgegeben.«
    »Na dann«, sagte er und zog eine Pfeife aus der Tasche. Wir machten es uns im Bug gemütlich und rauchten, während der Abend langsam schwärzer und kälter wurde. Ishbel lag auf dem Rücken, mit den Füßen auf Tims Knien. »Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagte sie. »Soll ich hingehen?«
    »Deine Entscheidung.« Er verfolgte die Rauchkringel, die in die reglose Luft aufstiegen und sich ineinanderrankten, und sang: Tabak ist nur Indianerkraut . . .
    Ein Lied, das Dan Rymer uns einmal beigebracht hatte, als wir miteinander umhergezogen und ihm bei der alten Treppe in Wapping begegnet waren.
    Grasgrün am Morgen, geschnitten am Abend . . .
    Ishbel stieß ihn an. »Traurig«, sagte sie.
    Er lachte und sang weiter, und ich fiel mit ein. Damals hatten wir mit Dan auf jener Treppe gesessen. Dan hatte eine lange, weiße Pfeife geraucht, sie hing in seinem Mundwinkel, während er sang:
     
    Die Pfeife ist so lilienweiß
    Und Männer lieben sie ganz heiß
    Zerbricht jedoch beim ersten Stoß
    Ein jeder wird so sein Leben los –
     
    Und den Refrain hatten wir alle gemeinsam gesungen:
    Denk dran, wenn du Tabak rauchst.
    Manchmal sangen wir das Lied in Jamrachs Hof zusammen mit Cobbe und lachten. Aber wir konnten uns die Worte nie genau merken, und auch jetzt fielen sie uns nicht ein, darum ga
ben wir auf und lagen eine ganze Weile in angenehmem Schweigen da, bis Ishbel mit leiser, trauriger Stimme sagte: »Ich glaube, ich muss jetzt zurück.«
    Tim öffnete die Augen und streichelte ihren Fuß. Die Zwillinge waren nicht völlig gleich, aber fast. Sein Kinn war länger, ihr Haar ein wenig dunkler. Sie hatte Grübchen in beiden Wangen, große, zuckende, nervöse Dinger, die kamen und gingen. Er hatte keine. Es muss komisch sein, in ein anderes Gesicht zu blicken und zu wissen, dass es genauso aussieht wie das eigene. Als schaute man in einen Spiegel. Manchmal betrachteten sie einander wie gebannt, und einmal sah ich, wie sie die Augen schlossen und, als wären sie blind, das Gesicht des anderen mit den Fingern erforschten, ihre ganz blutig vom Nägelkauen, seine lang und anmutig. Das brachte sie zum Lachen.
    Wir seufzten, warfen die leere Flasche über Bord, hängten uns die Schuhe um den Hals und krochen hintereinander über die Mauer zurück.
     
    Mrs Linver schickte uns erst einmal zum Waschen und servierte uns dann Brühe, dünn und köstlich. Der alte Mann schnitzte, das Feuer knisterte. Wir drei sitzen also am Tisch, albern herum und sticheln einander, als ihre Mutter herangeschwirrt kommt und Ishbel ein Glas mit Gin hinhält. »Ein Schlückchen, Süße«, sagte sie, »macht es einfacher.«
    »Ich geh nicht«, erklärte Ishbel, blickte sie nicht an, nahm den Gin aber trotzdem.
    »Sei nicht albern.« Mrs Linver schaute finster auf den Zopf, der Ishbel vorn über die Schulter fiel. »Da warst du wohl den ganzen Tag mit dem Kamm

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