Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
Vom Netzwerk:
Stirn. »Haltet den Mund!«, schrie sie und steckte ihrem dicken Ehemann ein Lätzchen in den Hemdkragen, »ich hab euch beide gründlich satt! Absolut gründlich satt!« Sie nahm Mr Linver eine halb fertige Wassernixe aus der pummeligen Hand und ließ sie in den Korb mit einem Dutzend fertiger Figuren fallen. Das war es nämlich, was Mr Linver, wenn er nicht gerade aß, den ganzen Tag lang mit beängstigender Ausdauer tat. Wie aufgezogen produzierte er am laufenden Band Nixen, die seine Frau auf der Straße verhökerte – rundgesichtige Frauen mit riesigen, birnenförmigen Brüsten und aufgerollten Fischschwänzen, auf denen sie sitzen konnten. Er war zur See gefahren, sogar ein stattlicher Mann gewesen, auch wenn man es kaum glauben wollte. Ishbel konnte sich noch daran erinnern, wie er mit Tim auf den Schultern in der Gasse auf und ab marschiert war und alle lachten. Aber als die Zwillinge sechs Jahre alt waren, war er ohne Verstand nach Hause gekommen, weil ihn irgendwo in der Nähe der Kapverden eine plötzlich herumwirbelnde Spiere am Kopf getroffen hatte. Niemand beachtete ihn. Er war wie der Sessel, in dem er saß.
    Auch mich beachtete niemand, also setzte ich mich an meinen gewohnten Platz und wartete aufs Essen.
    Ishbel kam mit zwei Schalen Suppe an den Tisch und setzte sie so hart ab, dass etwas von der dünnen braunen Flüssigkeit auf die Wachstuchdecke schwappte. Sie war jetzt zwölf und sehr launisch.
    »Das ist nicht gerecht«, sagte sie, »ihr kommt schon gewaschen und feingemacht her, und ich hatte noch nicht mal Zeit, mir die Haare zu kämmen.«
    Sie zog sich das schmierige Tuch von der Stirn und schüttelte den Kopf.
    »Du siehst doch ganz ordentlich aus«, sagte ihre Mama, »da bist du im Nu fertig.«
    Hinter dem Rücken ihrer Mutter zog Ishbel ein Gesicht, spannte die Muskeln in Hals und Kinn so stark an, dass sie zitterten. »Und wer, glaubst du, soll die verdammten Kohlen reinholen?«, fragte sie Tim. »Ich. Immer und immer nur ich. Ich hab die Nase voll von dir, ich hasse dich, es ist immer dasselbe mit dir.«
    Tim, dessen Haare immer noch feucht waren von unserer kleinen Waschung unter der Pumpe in Jamrachs Hof, machte sich mit einem schiefen Grinsen, das sie ärgern sollte, über seine Suppe her. Mr Linver beugte sich vor und rotzte ins Feuer.
    »Das ist eklig«, sagte Tim.
    Sein Vater sah ihn mit fast so etwas wie Hass an, flüchtig zwar, doch unmissverständlich.
    »Und heute Abend muss ich wieder arbeiten«, sagte sie, »aber ich gehe nicht hin, es ist nicht gerecht. Ätsch!« Sie schnappte sich einen kleinen Becher, füllte ihn im Suppentopf und verschwand im anderen Zimmer.
    »Oh doch, mein Fräulein, das wirst du!«, brüllte ihre Mutter ihr hinterher.
    Im Nebenzimmer gab es viel Rumgepolter und Geknalle und theatralisches Seufzen, während wir unsere Suppe aßen. Als wir fertig waren, ging ich mit Tim nach draußen, und wir setzten uns in der moosüberwachsenen Gasse in die Sonne und teilten uns eine Pfeife. Wir sagten nichts. Endlich kam Ishbel aus dem Haus, wischte sich dabei noch rasch den Mund ab.
    »Ich gehe nicht mit euch beiden«, sagte sie.
    Die Stimme ihrer Mutter verfolgte sie durch die offene Tür. »Oh doch, das wirst du, mein Fräulein!«
    »Ich gehe mit Jaffy«, sagte sie zu Tim, ohne mich anzuschauen, »aber nicht mit dir.«
    Das fand ich bemerkenswert. Denn wir trieben uns jetzt schon seit drei Jahren gemeinsam am Flussufer herum, ich immer dabei, häufig allerdings stolpernd und rennend, um nicht zurückzubleiben, und sie stets, Schulter an Schulter, mit ihren wippenden Blondschöpfen voraus.
    »Den Teufel wirst du«, sagte Tim ungerührt, steckte die Hände in die Taschen, zog die Schultern hoch, und los marschierten die beiden, wie üblich vorneweg. Ishbels Haare waren am Scheitel verfilzt und unten zu einem Zopf geflochten, der sich allerdings auflöste. Es war ein allgemeiner Feiertag, und auf den Straßen wimmelte es. Wir liefen zum Fluss hinunter, bezahlten unsere Pennys, betraten das Eingangsgewölbe zu dem kühlen Tunnel, wo der Jahrmarkt schon in vollem Gange war. Soweit man sehen konnte, reihte sich auf dem Gehsteig eine aufregende Attraktion an die andere – Wahrsagerinnen, Eselreiten, Äffchen mit verhärmten Gesichtern in blauen Jäckchen . . . Die Karren der Kleiderhökerer waren mit leuchtend bunten Damenkleidern geschmückt, die wie lauter in der Luft tanzende Mädchen über unseren Köpfen schwebten. Ich konnte Lavendel, Zucker und Wurzelbier

Weitere Kostenlose Bücher