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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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anbricht.
    »Sie wurde in den Marschen geboren«, sagte er, »draußen vor der Stadt.«
    »Ich habe sie gesehen.«
    »Sie gesehen?«
    »Am Kai.«
    »Natürlich«, murmelte er, »natürlich hast du sie da gesehen.«
    Wie in Trance sahen wir zur Madonna. Mit einem kurzen Blick zur Seite stellte ich fest, dass die Mandolinenspielerin mich träge und völlig interesselos betrachtete. Ich brauchte noch mehr Wein. Zurück an unserem Tisch, goss ich mir mein Glas fast randvoll. Vielleicht müsste ich mich übergeben, ja, aber das war in weiter Ferne, nicht jetzt, es war mir egal.
    »Ach, als ich in deinem Alter war«, sagte Dan und setzte sich wieder mir gegenüber, »ach, damals, ach, damals, ach, damals . . .«, und er schwenkte die Hand, die das Glas hielt, und etwas Wein schwappte über seine Finger.
    Eine Frau mit breitem Gesicht setzte sich neben ihn und küsste seine Wange. Ein winziger Schlüssel hing an einer blauen Schnur um ihren Hals. Er legte ihr einen Arm um die Taille, neigte den Kopf nach hinten, schloss die Augen und begann zu singen.
     
    Es bläst ein Wind aus Westen.
    Der Himmel regnet leicht.
    In meinen Armen die Liebste
    Das warme Bett so weich.
     
    Gott, hatte er eine Stimme! Kein normales Durchschnittsorgan, sondern eine richtige Stimme. Erneut kämpfte ich mit den Tränen, mein dummes, betrunkenes Herz. Aus den Augenwinkeln sah ich Tim mit einem Mädchen durch eine Tür schlüpfen. Mein Herz stieß einen Seufzer aus, stürzte in einen Abgrund. Mein warmes Bett so weich war nirgendwo. Das Kätzchen war zurückgekehrt.
    »Sie heißt Alice«, sagte Dan.
    »Alice«, echote ich.
    »Alice.«
    Alice, oh Alice. Wo ist meine Alice? Das Kätzchen in meinem Schoß zitterte.
    Dan Rymer hatte ganz zerknitterte Augen vor Lachen, und seine Lippen zogen sich nach unten. Er schenkte mir noch mehr von dem starken Rotwein ein und schlug seinen Kragen hoch. Die Frau neben ihm schloss die Augen und legte ihren Kopf an seine Schulter. Er trug sie wie einen Umhang, und als er sich über den Tisch beugte, bewegte sie sich mit ihm wie der Kopf an der Fuchsstola einer reichen Dame. In einem leisen, vertraulichen Ton sagte er: »Habe ich dir jemals – habe ich dir jemals – jemals von der Zeit erzählt, als ich einen Engel sah?«
    Ich schüttelte den Kopf. Gott, war ich voll.
    Der Widerschein des Feuers in den Mulden seines Gesichts ließ ihn alt aussehen, erschreckend alt.
    »Das war in Valparaiso.«
    Er hatte es fast nur geflüstert, weshalb ich mich vorbeugte, um ihn zu verstehen, und die Bewegung löste bei mir an einem irgendwie unbestimmbaren Ort eine leichte Übelkeit aus.
    »Ich lag im Rinnstein«, sagte Dan, »und ein kleiner Hund hatte mir gerade auf die Schulter gepisst.« Er nahm einen Schluck. »Lieber Gott, sagte ich. Vielen Dank. Vielen Dank, lieber Gott. Es hätte mein Gesicht sein können.«
    Ich prustete. Das Kätzchen erhob sich, drehte sich um sich selbst und grub mir seine Krallen in die Knie.
    »Wahrlich, wahrlich«, sagt Dan, und die Frau an seiner Schulter verrückte den Kopf, »du bist barmherzig, Gott.«
    Der Raum begann zu schlingern. Dünne Nadeln, Katzenkrallen, zerrissen meine Hose und stachen mir ins Knie. Stimmen draußen in der Nacht untermalten das Ganze. Irgendwo hatte jemand Streit, doch es klang nicht nach etwas Ernstem.
    »Der Mond lachte mich von oben aus«, sagte Dan und kam jetzt in Fahrt, »er kicherte aus einer Schlucht zwischen aufgeblähten Wolken.«
    Er straffte die Schultern.
    Ich dachte, ich müsse mich übergeben. Oh nein, nicht schon wieder, nein.
    »Ich schrie den Mond an«, sagte Dan, »›wen lachst du da aus?‹, und streckte einen Arm aus. ›Fettes Mondgesicht. Komm nur herunter und lach, dann zeig ich dir, was komisch ist!‹«
    Dan sprang auf, fast wäre der Tisch umgekippt. Eine Flasche rollte herum. Die Katze sprang auf die Erde, und die Frau rutschte zur Seite.
    »›Komm herunter, du alter Hanswurst!‹, schrie ich.«
    Er stand da, den langen Mantel weit geöffnet, den wilden Kopf gereckt, mit grimmig-benebeltem Blick.
    »Und da geschah es«, sagte er, setzte sich wieder und sprach mit leiser Stimme weiter, »dass der Engel kam. Zweieinhalb Meter groß vielleicht, ich weiß es nicht, jedenfalls ein sehr großes Wesen. Barfuß. Silberne Füße! Kannst du dir das vorstellen? Echte, lebendige Füße aus Silber. Und seine Flügel. Sie berührten die Mauern zu beiden Seiten der Straße. Und möchtest du wissen, was er zu mir sagte?«
    »Auf jeden Fall.«
    Dan

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