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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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nicht. Ihr werdet nicht reich sein.«
    »Woher weißt du das?«
    »Das weiß ich eben.«
    »Nein, tust du nicht.«
    »Doch.«
    »So.« Jetzt legte Tim sich auch hin. Da lagen wir drei unter einer heißen Sonne. Als ich die Augen schloss, war alles orangefarben. Ich muss nicht nach Hause gehen, dachte ich. Ich kann überallhin. Die Welt ist grenzenlos. Ich könnte hier leben. Ich könnte überall leben. Es muss nicht der Highway sein und auch nicht der Fluss und das Spoony und Meng. Ich könnte auf einem Berg leben. Im Dschungel. Wo es nichts als Blumen gibt. Endlos, und nichts ist sicher, und nichts ist gleich.
    Ich versuchte, das auszudrücken, aber es kam falsch heraus, darum gab ich auf.
    »Stellt euch doch bloß mal vor«, sagte Skip und gnickerte, als dächte er an etwas sehr Komisches. »In der nächsten Sekunde. Jetzt! Der Berg explodiert.«
    Tim lachte. »Bumm!«
    »Komisch, nicht?«, sagte Skip. »Wir könnten jede Minute tot sein.«
    »Woher kommst du, Skip?«, fragte ich.
    Er antwortete so lange nicht, dass ich meine Frage schon fast vergessen hatte, und sagte dann: »Aus Rochester. Vor langer, langer Zeit.«
     
    Alle Boote waren voll beladen, aber es gab immer noch einen Rest Öl.
    »Ist das vernünftig?«, blaffte Rainey Simon Flower an. »Das einfach zu verschenken? He, Junge! Hat man dir das befohlen?«
    »Nein, Sir«, sagte Simon, ein dunkelhaariger, ernster Bursche, der, was Schönheit anging, leicht mit Tim konkurrieren konnte.
    »Kein Geld, kein Öl. Sag ihnen, es gibt nichts mehr«, brüllte Rainey zu John Copper, der eine Schar alter Bettelweiber, als wären es Gänse, zu verscheuchen suchte.
    »Wie viel ist noch übrig, Mr Rainey?« Kapitän Proctor, der sich von hinten näherte, klang freundlich.
    Was es mit dem Kirchgang auf sich hatte, wusste ich nicht, aber Rainey hatte auf jeden Fall einiges getrunken. Man roch es an der Atemwolke, als er sich umdrehte. »Nicht mehr viel«, antwortete er und wackelte an einem Fass.
    »Was denken Sie, Mr Flower?«
    Simon wurde feuerrot. »Bodensatz, Sir«, sagte er.
    Proctor überlegte kurz, dann hatte er sich entschieden. »Leert sie aus. Lasst sie kriegen, was noch drin ist. Ist sowieso nur noch verdammt wenig.«
    Die alten Frauen eilten herbei, drängelten sich um die Fässer, schubsten einander und schoben ihre Krüge unter die Zapfhähne. Es wurde schon dunkel. Dan Rymer saß auf der Kaimauer. Draußen in der Bucht hatte die Lysander ihre Laternen angesteckt, und auch auf der Insel sah man überall Licht. Dan winkte Tim und mich heran. »Das ist euer erster echter Landgang«, erklärte er. »Haltet euch in meiner Nähe. Einen besseren Führer kriegt ihr nicht.«
    Ich weiß nicht, wie alt Dan war. Er hatte viele Falten, benahm sich aber wie ein junger Mann, und von Zeit zu Zeit ließ ein irgendwie jungenhaftes Lächeln sein ramponiertes Gesicht aufleuchten: ramponiert deshalb, weil sich noch ein geisterhafter Rest von Schönheit darin verbarg, die selten zum Vorschein kam und fast vollständig unter seinem ledrigen Äußeren begraben lag. Er war einfach von jeher Mr Jamrachs Lieblingslieferant,
eine vertraute ruppige Erscheinung, und seit wir losgesegelt waren, hatte ich kaum etwas mit ihm zu tun gehabt, weil Gabriel offenbar meine Einarbeitung übernommen hatte. Doch an jenem Abend in Horta, da begann ich ihn kennenzulernen.
    In den schmalen Gassen duftete es überall nach Blumen. Die Hauswände waren bunt gemustert. Es ging zu einer Gaststätte – oder war es ein Haus? –, ich werde es nie wissen. Goldenes Licht fiel durch eine Tür. Eine Frau sang. Ihre dunkle Stimme drang in die Nacht hinaus, und sie klang himmlisch. Blütenpracht, die sich über Wände ergoss, in die enge Straße hinabfiel, purpurfarben und weiß. Wir kamen in einen Raum, der uns freundlich empfing, die Wände voller Heiliger, lachende Männer an den Tischen, und die Frauen sehr viel schöner als die Huren vom Ratcliffe Highway. Die Frauen – diese dunklen, fremden Frauen. Ihre schwarzen Brauen, ihre braune Haut, ihre komplizierte Art der Bewegung. Ein schweres Aroma weitete die Poren unter meiner Zunge, süße Kräuter und Fleischsaft. Am Boden brannte ein Feuer, darauf kochte ein Topf.
    Ich saß an einem Tisch mit dem Rücken zur Wand, Tim neben mir, Dan mir gegenüber. Ich trank etwas Starkes, Dunkles, Rotes aus einer runden Lederflasche. Eine hübsche, freundliche Frau, die sehr schnell in ihrer Sprache redete, servierte uns Geschmortes und Kartoffeln; etwas so

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