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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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schlimmer, er führt ein Eigenleben, aber unberechenbar. Stell ihn dir wie einen großen Puls vor, der jederzeit losklopfen kann. Die ganze Kraft sitzt im Schwanz. Du musst schnell rein und schnell wieder raus. Sei auf alles gefasst und geh kein Risiko ein.«
    »Klar.«
    Dieser Schwanz in einem geschlossenen Raum! Aber Dan würde als Erster drin sein und den Kopf festhalten (die Zähne, den Kiefer, der zuschnappt), und alle würden drum herum stehen. Und ich war derjenige, der gut mit Tieren konnte. Beinah hätte ich gelacht. Dan sagte, wir seien nicht mehr weit vom Ankerplatz entfernt, weiß der Himmel, woher er das wusste. Der Drache gab allmählich auf, hing einfach nur an dem Baumstamm und stieß hin und wieder mit einem Bein. Es wurde jetzt dunkel, aber Gott sei Dank war Vollmond, und Gott sei Dank verfolgten uns keine anderen Bestien, keine Skorpione huschten über den Weg, keine Schlangen zischelten und bissen uns hinterhältig im Gras. Als wir ankamen, war es dunkel. Die Malaien liefen mit Fackeln voraus, und wir folgten ihnen, ließen die Baumgrenze hinter uns und sahen vor uns eine mondbeschienene Bucht. Gesichter grinsten und starrten ins flackernde Licht, alle rannten uns entgegen, orangefarben angeleuchtet vor schwarzem Hintergrund. Unten am Strand brannte ein großes Feuer.
    Kapitän Proctor kam angelaufen, das runde, rosige Gesicht erwartungsvoll.
    »Mein Gott!«, rief er immer wieder, »mein Gott!«
    Samson rannte hinter ihm her, blieb aber abrupt stehen, als er den Drachen sah, senkte den Kopf und begann zu bellen. Proctor packte ihn am Halsband und streichelte ihn mit der anderen
Hand. »Ich werde ihn anbinden«, sagte er ganz außer Atem und zog ihn weg.
    Den Drachen in den Käfig zu bekommen war einfach. Er war erschöpft. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen hob Gabriel die Klappe ganz hoch, und wir schoben das Ding hinein. Jetzt war ich dran. Wir beide, Dan und ich. Wir gingen hinein, um das Seil zu entfernen. Dan nahm den Kopf, ich den Schwanz. Ich dachte nicht nach. Ich packte ihn, löste den Knoten, lockerte das Seil sanft, zog es weg und war aus dem Käfig. Dan folgte mir eine Sekunde später. Gabriel ließ die Klappe fallen, Yan und Simon schoben die Riegel vor.
    Tosender Applaus. Dann warf der Drache plötzlich wie angestochen alle Glieder gleichzeitig von sich, hob blind den Kopf und begann erneut zu wüten – ein weiterer Anfall, so wild und verzweifelt, dass wir alle verstummten. Sie hätten wirklich sehen sollen, wie dieses Monster im Schein des Feuers zuckte und sich besinnungslos gegen die Käfigwände warf. Hoffentlich würde Joe Harpers Werk standhalten. Aber der Käfig war stabil, aus Holz und Stahl gefertigt, und der Drache war natürlich inzwischen geschwächt. Trotzdem tobte er noch eine gute halbe Stunde weiter, fauchte, wand und krümmte sich und peitschte mit dem Schwanz, bis er endlich in eine gequälte, geifernde Starre fiel, mit fast geschlossenen Augen platt auf dem Bauch lag, die vier dicken Stempelbeine und den langen Schwanz von sich gestreckt.
    8
    Jetzt war meine Zeit gekommen. Tims Aufgabe war erledigt. Ich war der Junge, der gut mit Tieren konnte. Ich würde den Drachen ab jetzt immer begleiten. Ich war bei ihm, als wir im Boot zurückruderten, ich war bei ihm, als sie ihn längsseits an Deck hievten, ich ließ ihn aus dem Käfig in sein Gehege unterm Logis ziehen. Dan und ich waren es, die ihn, so sanft wir konnten, sauber spritzten. Die Schweine wurden bei seinem Geruch halb verrückt, und Wilson und Gabriel mussten sie nach achtern schaffen. Und nachdem wir den armen Drachen gereinigt hatten, spritzten wir uns selbst sauber, warfen unsere dreckigen Kleider ins Meer, sie taugten nichts mehr, und zogen frische Sachen an. Sauber und trocken und sicher an Bord der Lysander ! Nachts in der eigenen Koje schlafen! Im alten verrauchten Logis, meiner Heimat. Ich schlief im Stehen und redete so, wie man redet, wenn man weiß, dass man eigentlich schläft. Man glaubt sich in einem Traum, in dem man denkt, man wäre wach, aber man ist sich nicht sicher, und dann wird alles sehr komisch, und man weiß, dass man wohl doch träumt, aber man träumt in einem Traum, und plötzlich legen sich immer mehr Schichten aneinander so wie die Ringe eines alten Baumstumpfs oder die Schlieren in einem schönen Stein, und man bekommt Angst. Dann wacht man auf. Aber manchmal frage ich mich doch, ob ich überhaupt jemals wieder richtig aufgewacht bin. Diese Träume sind derart

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