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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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real, derart echt, dass es wahrscheinlich so oder so aufs selbe hinausläuft. Man könnte behaupten, ich ging in den Schlieren des Steins verloren.
    Das Gehege hatte die Größe eines kleinen Zimmers. In einer Ecke gab es ein zwei mal zwei Meter großes Wasserbecken, das
sich von Deck aus leeren ließ, und eine Klappe, durch die man das Futter werfen konnte. Es war gegen die Witterung geschützt, mit Stroh und Grünzeug und Sand ausgestattet und sogar mit ein paar Steinen, denn das Geschöpf sollte sich heimisch fühlen. Niemand durfte sich ihm nähern, bis es sich eingelebt hätte, nur Dan und ich, sagte er und scheuchte alle anderen fort.
    »Sieh zu, dass es zur Ruhe kommt«, sagte er. »Bedaure das arme Ding.«
    Wilson kochte ein Festmahl aus bestem Pökelrindfleisch und Süßkartoffeln, und wir aßen und tranken, bis wir beinahe platzten, und erzählten unsere Geschichte zum hundertsten Mal. Aber wie wir sie auch erzählten, immer fehlte etwas. Wie sollte man ihn auch beschreiben, jenen ehrfürchtigen Schauer? Als hätte ich über den Rand eines großen Lochs in der Erde geschaut, und etwas Wildes, Unaussprechliches hätte meinen Blick erwidert. Tim trug ein zaghaftes Dauerlächeln zur Schau und riss Witze über die ganze Geschichte, und das erleichterte, etwas irre Gelächter scholl in Wogen über Deck. Sie müssen uns auf der Insel gehört haben, all diese seltsamen Geschöpfe, und das einsame Tier muss uns in seinem Gehege gehört haben. Ich fühlte mit ihm in seinem Elend. Ich würde es gern wieder gesund pflegen und zum Leben erwecken und ein Wesen voll wilder Herrlichkeit nach England bringen, eine Kreatur, die mir zur Ehre gereichte.
    In dieser Nacht schlief ich traumlos und erwachte strahlend, wie von einer kristallklaren Quelle erfrischt und erneuert.
    An jenem ersten Morgen erledigte ich meine Pflichten bei dem armen Wesen unter den scharfen Blicken dutzender Augenpaare mit einiger Großspurigkeit. Keine Sklavenarbeit mehr! Kein Wischen und Schrubben, kein scharfer Sand mehr in den Wunden! Meine neue Verantwortung trug mich in der Hackordnung eine Stufe nach oben. Bald schon war ich derjenige, den man in Fragen der Drachenkunde konsultierte. Als ob ich Be
scheid gewusst hätte. Sie konnten es nicht abwarten, das Tier zu sehen, aber ich ließ immer nur einen von ihnen heran, und auch nicht zu nah, da ich es nicht wieder aufregen wollte, wo es sich gerade ein wenig beruhigt hatte. Es hatte sich in eine Ecke des Geheges zurückgezogen, lag mit geschlossenen Augen platt auf dem Boden und atmete kaum hörbar. Als Dan hineinging, rührte es sich nicht. Wir hatten Stöcke, brauchten sie aber nicht. Ich hatte den Eindruck, es stürbe. In Wirklichkeit sammelte es Kraft.
    Das Letzte, was ich von jener Insel mitnahm, als wir fortsegelten, war das Geräusch: Kreaturen, die in den Bäumen schrien.
    Wir bezahlten die beiden Malaien und verabschiedeten uns von ihnen auf Flores, wandten uns anschließend nach Norden, durchquerten die Straße von Makassar zwischen Celebes und Kalimantan und segelten, durch klare Korallenmeere, östlich an den Philippinen vorbei und dann wieder nach Norden, zum ostchinesischen Meer. Die ersten Tage waren heiß und ruhig, mit einer leichten Brise von Süden. Diese Gewässer sind die inselreichsten der Welt und wunderschön dazu. In der ersten Woche gab es für mich nur die glitzernde, leuchtend blaue Welt, die unablässig auf und nieder wogte, die blutroten Sonnenuntergänge, die Vögel, die auf den Spieren schrien, und das Geschöpf in seinem Gehege. Es wollte weder fressen noch trinken, lag einfach platt und sabbernd in seiner Ecke. Ich wachte bei ihm wie eine Mutter bei ihrem kranken Kind. Ich lockte es mit rohem Fleisch und Fisch, servierte ihm Brot, Papayas, Käse und Klöße, offerierte ihm ein lebendes Schwein. Nichts. Seine Augen waren offen, aber leer und wie versteinert. Das einzige Zeichen, dass das Tier überhaupt noch lebte, war die schnelle rhythmische Bewegung seines flachen Bauchs beim Atmen. Hin und wieder erlaubte ich den anderen einen kurzen Blick, doch die meisten verloren dann ziemlich bald das Interesse. Bis auf Mr Comeragh, Skip und den Kapitän. Und natürlich Dan. Dan
war immer da. Comeragh und der Kapitän kamen gelegentlich vorbei, aber Skip war gar nicht wegzukriegen.
    »Darf ich ihn zeichnen?«, fragte er, und ich ließ ihn.
    »Ist es ein Junge oder ein Mädchen?«
    »Junge«, sagte ich mit Überzeugung, obwohl ich keine Ahnung hatte. So ein großes,

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