Der Atem der Welt

geschenkt. Zehn Minuten nachdem ich das Schwein ins Gehege gesetzt hatte, sah ich diesmal, wie er es aufmerksam aus einem Auge beobachtete, während es zum Trog lief und im Grünzeug herumstöberte. Das arme Schwein hatte keine Chance. Etwas so Schnelles hatte ich in meiner ganzen Zeit bei Jamrach nicht erlebt. Die Art, wie das Wesen erst reglos wie ein Stein dalag, dann plötzlich – etwa zwei Meter entfernt, fast so weit, wie sein Seil reichte – schnapp! Das Schwein im Maul. Es war ein furchtbarer Anblick. Der Schrei – reinstes helles Ent
setzen – rief alle herbei. Der Drache hatte es beim Nacken gepackt. Nahm den ganzen Kopf mitsamt Hals und den Schultern bis zu den strampelnden Vorderbeinen seitlich ins schlangenhafte, unglaublich weit aufgerissene Maul und schleuderte das Tier hin und her und knallte es gleichzeitig auf den Boden. In den Bauch beförderte er es mit einer Reihe brutaler Schlucke, mampf, mampf. Die Mannschaft spendete wilden Beifall. Vier- oder fünfmal konvulsivisch gewürgt, und nur noch die Hinterfüße sahen heraus, gnädigerweise regungslos.
    Dann war es weg, kein Schwein mehr, und er leckte sich die Lippen. Seine Zunge schnellte vor und zurück.
    »Braver Junge!«, sagte ich.
    Er belohnte mich mit einem kurzen Fauchen.
    »Das ist verdammt eklig«, sagte John Copper.
    »Ist es nicht«, sagte Gabriel. »Erwartest du, dass es mit Messer und Gabel isst?«
    Dan lachte. »Jungs«, sagte er, reckte die Schultern und rieb sich die Hände wie ein Jahrmarktzauberer. »Ich glaube, wir haben es geschafft. Ich glaube, wir haben unser Glück gemacht.«
    Ich war es gewesen. Ich hatte den Drachen zum Leben erweckt. Ihn zu fangen war nur der Anfang, ihn zum Leben erwecken, das war das Eigentliche. Erst jetzt wagte ich, erleichtert zu sein und mir einzugestehen, wie sehr ich nach Hause wollte. Heimat. Ratcliffe Highway mit Geld in der Tasche, ein Held kehrt heim. Mama ein neues Kleid kaufen. Eine Haube. Und Ishbel, was würde sie sich wünschen? Abends schick ausgeführt werden, das würde ihr gefallen. Sie einladen und freihalten. Mit ihr tanzen. Mit ihr trinken, ihr meine Geschichten erzählen. Was würde ich ihr mitbringen? Fächer und Perlen und Federn.
    »Der ist über den Berg«, sagte Dan. »Er ist über den Berg, und ich kann mich unbesorgt zur Ruhe setzen.«
    » Du wirst dich nicht zur Ruhe setzen.« Tim lümmelte sich auf
der Ankerwinde. »Ich glaube kaum, dass du es zu Hause lange vorm Kamin aushalten wirst, Dan.«
    »Ah-ha-ha«, sagte Dan. »Da irrst du dich. Nichts auf der Welt wünsche ich mir mehr als das Ende dieser Reise und dass ich dem Meer dann den Rücken kehren kann, für immer.«
    »Sie, Mr Rymer?« Der Kapitän lächelte. Er stand mit Mr Rainey und Henry Cash zusammen.
    »Ja, ich, Kapitän«, erwiderte Dan.
    Wir starrten den Drachen an, und er starrte zurück, bis auf ein gelegentliches Zucken der Zunge völlig regungslos.
    »Der alte Bingo«, sagte der Kapitän. »Wahrscheinlich werden sie ihn Rymer-Drache nennen. Man gibt den Dingen doch immer den Namen ihrer Entdecker.«
    »Unsterblich!«, rief Dan mit noch mehr Lachfältchen um die Augen. Er hatte beim Abendessen eine ziemliche Menge getrunken und war in heiterer Stimmung. »Darauf trinke ich. Und auf die fette Prämie, die jeder Einzelne auf diesem Kahn sich redlich verdient hat. Felix, Junge, lauf und hol mir einen Becher.«
    »Wenn überhaupt, sollte man ihn nach dem Jungen hier benennen«, sagte Mr Rainey brüsk und wedelte mit der Hand in meine Richtung. » Er hat ihn aufgepäppelt.«
    Ich.
    Keine Ahnung, weshalb mich das so ergriffen hat. Rainey mit seinem großen dunklen Gesicht und den kummervollen Augen war der Einzige auf dem Schiff, vor dem ich Angst hatte. Nicht der Kapitän. Genau wie Gabriel bei unserem Aufbruch gesagt hatte: Unser Kapitän eignete sich nicht als Kapitän. Inzwischen habe ich einige kennengelernt, und sie halten Distanz, die Kapitäne. Nicht so Proctor, der spazierte auf Deck umher, ein schwaches Lächeln in seinem sommersprossigen Gesicht, und hoffte, dass man ihn mochte. Manchmal scherzte er auch. Na? Sind Sie denn auch ein geschickter Seiler, Mister Seiler? Ha ha! Sind Sie ein geschickter Kerl?
    Ha ha ha. Rainey dagegen, Rainey konnte einen mit einem einzigen mürrischen Blick zum Schweigen bringen.
    Und hier lobte er mich vor allen anderen.
    Zu Recht, recht so!
    Mr Rainey ist in Ordnung, dachte ich. Da sieht man mal wieder, man kann nie wissen.
    »Ganz genau«, sagte Dan und legte mir