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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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scheiß mir schon in die Hose.«
    »Das tun wir alle, John«, sagte Dag und legte ihm für eine Sekunde rau den Arm um die Schultern. »Stimmt doch, oder?« Er wandte sich an uns Übrige.
    Ich nickte heftig. Tim sagte nichts.
    Dan wurde ernst. »Jetzt hört mal zu«, sagte er, »ich habe euch doch nicht als Echsenfutter hergebracht. Was ist bloß los mit euch? Das hier ist eine Jagd, und es ist genauso, wie wenn wir auf Waljagd gehen. Ihr tut, was euch gesagt wird, dann nimmt keiner Schaden. Passt auf.« Er holte sein Gewehr heraus und richtete den Lauf zum Himmel. Er lächelte. »Ihr seid alle bewaffnet. Sobald ihr Zweifel habt, schießt ihr. Ohne zu zögern. Ich will nicht, dass irgendeinem von euch was passiert. Also hört auf zu winseln.«
    »Aber es gibt so viele von ihnen!«, jammerte John.
    »Richtig«, sagte Dan. »Und das ist auch gut.«
    »Gut«, echote Dag, und ein gewaltiges verrücktes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
    »Ja«, wiederholte Dan mit Nachdruck. »Es ist tatsächlich gut. Ich weiß jetzt, was wir machen. Jetzt weiß ich, was wir machen.«
     
    Dan tötete einen Eber. Wir schleppten den blutigen Kadaver fast zwei Kilometer weit, bis wir an eine Stelle kamen, wo die Bäume dichter wurden. Hier hieß er uns ein Versteck errichten und Pfähle im Kreis einschlagen, die wir fest mit Seilen vertäuen sollten. Der Kleinere der Malaien kletterte, mit einem weiteren Seil im Mund und flink wie ein Eichhörnchen, einen Baum hinauf.
Oben umklammerte er nur mit der Kraft seiner Beine den Stamm und befestigte das Seil und bog, indem er wieder zu uns anderen hinunterglitt, die elastischen Zweige damit nach unten. Wie ein schützender Fächer legten sie sich über die Falle. Wir schnitten einen Eingang frei, der groß genug für das Wesen war, und Dan baute eine Art Schlinge um den Eingang und führte das Seilende zu unserem Versteck. Dann lösten wir uns beim Warten und Wacheschieben ab.
    Wir warteten einen halben Tag, endlich ging die Sonne unter. Wir verließen das Versteck, errichteten in der Nähe ein Lager, wieder um ein Feuer herum, aber Witze gab es in dieser Nacht nicht. Dan sagte, wir hätten uns still zu verhalten. Wir seien nicht in Gefahr, sagte er. Wenn es kommt, riecht es den Köder und folgt dem Geruch. Wir hören, wenn die Falle zuschnappt, glaubt mir. Oh, glaubt mir, sagte er. Keine Angst, Jungs. Das hab ich schon tausendmal gemacht. Also hockten wir in der Runde, flüsterten miteinander, kauten Zwieback, dachten an die anderen, die unten am Ufer in Fleischorgien schwelgten, und fragten uns, ob sie sich wohl ihrerseits fragten, wo wir steckten und ob uns vielleicht etwas Furchtbares zugestoßen war. Mein Magen begann zu schmerzen. Als ich abgelöst wurde und mich hinlegen durfte, konnte ich nicht schlafen, sondern döste nur, und die Insel wurde merkwürdigerweise zu einem durch die heiße Dunkelheit segelnden Schiff, und ich zuckte und brabbelte vor mich hin, bis es wieder hell wurde.
    Die Dunkelheit schwand, die Inselvögel pfiffen und schnatterten und klagten im Wald unterhalb von uns. Der blau Tätowierte war auf Erkundungstour. Der kleinere Malaie pulte sich im Schneidersitz mit geduldiger Hingabe den Schlaf aus den Augenwinkeln. Ich verschwand zum Pinkeln in die Büsche und sah, wie dunkel das Meer am Horizont war. Indigofarben. Man konnte von hier aus Inseln sehen. Und wie still alles war, wenigstens für einen Augenblick, bis Tim sich zu mir gesellte.
    »Du solltest dich nicht alleine entfernen«, sagte er, während er neben mir pinkelte.
    So verging der Morgen wie der vorherige Tag, wir warteten, wachten, sahen Tausendfüßler, groß wie Würmer, aus dem behelfsmäßigen Dach des Verstecks kriechen und dachten an die Krabbeldinger, die in dem Kadaver wie Maden in einem Stück Leber gewimmelt hatten. Widerliche Dinger. Schmierige Dinger. Die Drachen aus dem Märchen waren wunderschön, flogen mit herrlichen Flügeln über den Himmel, tödlich, aber großartig. Aber diese hier – waren absolut hässlich, ausgestattet mit einer lässig brutalen Kraft, die eher an Albträume als an Märchen erinnerte. Ihren Augen fehlte alles für Menschen Begreifliche. Mehr noch als einem Wal, mehr als einer Schlange, mehr als einem Frosch. Und ebendieses Wesen hatte mich angeblickt. Da war ich ganz sicher. Es hatte mich angeblickt, und es war der Blick eines Dämons gewesen.
    Der Tätowierte, unser stummer Pfadfinder, kam zwei Stunden nach Sonnenaufgang stumm winkend zurück.

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