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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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hässliches Ding. Natürlich hätte er, soweit ich weiß, auch eine liebliche Drachenmaid sein können.
    »Glaubst du, dass er aufwachen wird?«
    »Er ist wach.«
    »Tut aber nicht viel, oder?«
    »Lass ihm Zeit.«
    »Wie heißt er?«
    Ich lachte. Als ob es ein Haustier wäre!
    »Weiß ich nicht.«
    »Ich hab einen Namen«, sagte Skip, »nenn ihn Bingo.«
    »Bingo?«
    »Genau. Was hast du dagegen? Ist doch ein guter Name. He, Bingo! Bingo!«
    »Er ist aber kein Hund«, sagte ich.
    »Na und?«
    Bingo als Name war blöd. Ich sperrte mich lange dagegen, aber irgendwie blieb er doch an ihm hängen. Dabei hatte er so gar nichts Würdevolles. Ich benutzte ihn nie.
    »Wie geht's Bingo heute?«, rief etwa Kapitän Proctor mir jovial zu.
    »Gut, Sir.«
    »Fein, fein.«
    Oder Wilson Pride sagte: »Hier«, und reichte einen Knochen aus der Kombüsentür. »Schau mal, ob Bingo den will.«
    Aber Bingo wollte nie irgendetwas.
    »Glaubst du, er hält durch?«, fragte ich Dan.
    Seine Mundwinkel sackten nach unten. »Schwer zu sagen«, antwortete er. Er hatte eine Schöpfkelle an einem Stock befestigt
und goss dem Drachen gerade Wasser aus einem Eimer über das Maul, in der Hoffnung, er würde vielleicht trinken. Die Augen des Drachen waren geschlossen. »Ich habe schon welche in schlechterem Zustand durchkommen sehen«, sagte Dan. »Verstehst du, die trauern. Das würdest du doch auch, oder? Ihm kommt es vor, als wäre er gestorben und in die Hölle gefahren. Und dir könnte das auch passieren, Jaff, pass auf. Geh bloß nicht zu nah ran.«
    Ich hatte keine Angst. Das arme Ding war viel zu geschwächt. Ich kam näher, und Dan reichte mir die Kelle. Ich tröpfelte Wasser auf das Maul des Geschöpfs. Nichts.
    Immerzu nichts. Nichts, nichts und wieder nichts. Jeden Tag ging ich ins Gehege und redete mit ihm. »Hallo, du dummer alter Drache«, sagte ich. »Bist du immer noch nicht auf den Beinen. Was um Himmels willen soll das, he? Ich weiß, dass es schlimm ist, aber du könntest doch wenigstens einen Versuch machen.« Ich lockerte sein Seil, um es ihm angenehmer zu machen. »Dort, wo du demnächst hinkommst, wird es dir an nichts fehlen«, erklärte ich ihm. »Dieser Mr Fledge, der ist stinkreich. Ein Verrückter. Du wirst sein ganzer Stolz sein, glaub mir.«
    Nichts, nichts und wieder nichts. Dann plötzlich, nach vielleicht sechs Tagen, trank er. Ich stand in etwas mehr als einem Meter Entfernung und hielt meinen komischen Stock mit der Schöpfkelle über seine Nase. Er zwinkerte, das lange gelbe Band seiner Zunge schoss hervor, und rosa öffnete sich der gewaltige Schlund seines Mauls. Seine kleinen, scharfen, weißen Zähne grinsten eine Sekunde lang. Ich zuckte zusammen, und auf meine plötzliche Bewegung hin machte er einen Ruck in meine Richtung.
    Sofort war ich weg, raus aus dem Käfig, schloss die Riegel hinter mir. Aus sicherer Entfernung hinter dem Gitter sprach ich ihm Mut zu. »Braver Junge!«, sagte ich, »so ist es recht!«
    Seine kleinen Schweinsaugen beobachteten mich argwöhnisch,
doch eine weitere Bewegung ließ er sich für den Rest des Tages nicht entlocken. Es folgten noch einige Tage der Regungslosigkeit, in denen nur seine Augen sich bewegten und wir uns gegenseitig beobachteten, während ich Heu harkte und das Becken säuberte. Trotz alledem bist du nur ein Tier, dachte ich. All das Grauen, das irgendwie mit seiner Erscheinung verbunden gewesen war, existierte inzwischen für mich nicht mehr. Ich hatte seine Artgenossen einander fressen sehen, und das war fürchterlich, aber wenn mich meine Jahre bei Jamrach etwas gelehrt hatten, dann, dass sich hinter einem finsteren, hässlichen Äußeren manchmal eine vielschichtige Seele verbergen kann. Diese Augen waren ebenso wenig dumm, wie ein Stein dumm ist. Noch während seiner schlimmsten Wutanfälle waren jene uralten Augen unbewegt wie Sterne geblieben, hatten hellwach alles, was ihm widerfuhr, mit der Klarsicht eines weisen Mannes aufgenommen. Leben und Tod glichen einander doch überall, der Schmerz, das Gefühl, das Kämpfen und Sterben, überall gleich. Und das verbarg sich in den abgründigen Augen des Geschöpfs. All das und die ganze Wildheit seines Lebens. Nein, er war nicht dumm.
    Es kam die Zeit, da wusste ich, dass er leben würde. Er fraß ein Schwein. Es passierte zu einem günstigen Zeitpunkt, direkt nach dem Abendessen, als sich alle an Deck aufhielten. Ich hatte ihm schon früher ein lebendes angeboten, doch er hatte ihm keinerlei Beachtung

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