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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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»Drachen«, sagte er, das erste Wort in unserer Sprache, das ich ihn sprechen hörte. Dan, der aus dem Gebüsch kam und dabei seine Kniebundhose hochzog, nickte einmal kurz. Offensichtlich kam er gerade vom Abort zurückspaziert. Wir anderen gingen immer zu zweit, weil wir Angst hatten, mitten beim Scheißen könnte plötzlich ein großer schuppiger Schädel mit bösartigen Zähnen aus dem Unterholz auftauchen. Trotzdem hatten wir noch immer Schwierigkeiten, auch wenn Dag Wache schob und alle zwanzig Sekunden in tapferem Flüsterton »Kein Drache in Sicht« verkündete. Aber Dan war einfach verrückt. Vielleicht musste man ja verrückt sein, wenn man in diesem Metier erfolgreich sein wollte. Verrückt oder dumm oder mit einem sechsten Sinn ausgestattet, vielleicht auch alles drei. »So, Jungs«, sagte er vollkommen ruhig, »das könnte er jetzt sein«, und dann brach er mit einem ängstlichen Tim im Schlepptau auf. Ich wusste, dass Tim
Angst hatte, nicht weil er es zeigte, sondern weil er sehr still geworden war und sich so weit wie möglich von den anderen fernhielt, außer von Dan – wie ich halb mitbekommen hatte, steckten die beiden nächtelang die Köpfe zusammen und hielten kleine Konferenzen ab.
    Verstohlen wie Katzen folgten wir Übrigen, befeuchteten uns die Lippen und versuchten, mannhaft zu wirken.
    Das Versteck lag grün und kühl im Schatten, vom Wacheschieben war alles plattgetrampelt. Durch die überhängenden Blätter sahen wir den Drachen am Rand der Grassteppe entlangstreifen, dann durch das offene Buschland auf die Bäume zu laufen. Es war ein großes Tier, in sehr viel Haut gehüllt, von den geschlossenen Kinnladen tropfte sirupzäher Geifer. Es hatte den Eber gesehen, ihn zumindest gewittert. Das lebhafte Gesumm früher Morgenfliegen drang bis zu mir. Der Drache steuerte zielstrebig auf die Falle zu. Der mächtige Umfang seiner Beine hatte etwas Elefantenhaftes. Wenige Schritte vor der Falle blieb er stehen, einen Fuß leicht vor den anderen gesetzt. So nah, so groß! Schwere Lider hingen über den kleinen, reglosen Augen, die nicht tot waren, sondern eine scharfe, fremdartige Geistesgegenwart verrieten. Er blickte direkt zu dem Versteck und zu uns.
    Und so erstarrte dieser Augenblick und dauerte und dauerte. So lange, dass wir tausendmal gestochen wurden; dass die länglichen, roten Krabbelwesen sich, wie die Würmer im Themseschlamm, ungehindert auf unseren zuckenden Schenkeln niederlassen konnten. So lange, dass wir uns die grausam gekrümmten Klauen, die glitschige, gerundete Schlangenzunge, die schiere Masse, die Kompaktheit und die Kraft des Dings genau ansehen konnten. Wir würden es mit einer Art Rhinozeros zu tun bekommen.
    Eine halbe Stunde lang stand es da, unbeschreiblich. Dann geschah alles sehr schnell.
    Es drehte den Kopf erneut in die Richtung des summenden
Fleischs, nickte langsam ein- oder zweimal, richtete sich auf und legte los. Dan ließ das Seilende fahren, die Äste schnellten blitzartig hoch, die Schlinge zog sich um den Bauch des Drachen zusammen, und er geriet in Panik. Geplant war, dass er die Falle mit dem ganzen Körper betrat, aber er war halb im Eingang gefangen worden und stieß und bockte und schlug um sich wie ein angeschossener Löwe, trampelte auf der Erde herum und schnappte wie wahnsinnig mit dem Kiefer. Er spie einen violettbraunen halb verdauten schleimigen Klumpen aus. Dan und Tim und die beiden Malaien hatten das Versteck an der Seite verlassen, wagten sich aber nicht näher heran. Die Pfähle brachen und bogen sich, der Drache rutschte in seinem Erbrochenen, wälzte sich darin, während die vier um ihn herumschlichen, Abstand hielten. Der Schwanz schlug laut und dumpf, wie die Flossen eines Wals, die langen, scharfen Klauen krallten sich verzweifelt in alles Erreichbare. Er war ein Mörder, und er war wütend und hatte Todesangst.
    Er konnte sich befreien und zog an dem Seil um seinen Bauch einen langen Pfahl von der Länge eines Besenstiels hinter sich her.
    Es war richtig von Dan gewesen, Tim für die Jagd auszuwählen. Er war genau dort, wo er zu sein hatte, und er war ruhig, oder zumindest wirkte er ruhig. War das Tapferkeit? Ich weiß nicht, ob er tapfer war oder einfach in einer Art Trance. Er konnte durchaus Angst haben, das weiß ich. Vielleicht hatte er jetzt keine, und wenn doch, dann hatte er sie irgendwo tief in sich vergraben, wo niemand sie sah. Jedenfalls keiner außer mir, denn ich kannte ihn schon zu lange. Diese verschleierten, halb

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