Der Atem des Jägers
Schuld, das Selbstmitleid und die Trauer, aber vor allem war es der
Verlust, der sie erschütterte. Denn sie hatte ihn so sehr gehaßt. Sie begann zu weinen und konnte erst später die Gründe dafür
analysieren: was sie getan hatte, ihr Verschwinden, ihr Anteil an seinem Tod. Die Einsamkeit ihrer Mutter, ihre plötzliche
Freiheit. Daß sie nun endgültig niemals mehr von ihrem Vater anerkannt werden würde. Und es dämmerte ihr, daß auch auf sie
der Tod wartete.
Aber sie konnte nicht erklären, warum das nächste, was sie sagte, Sonia betraf. »Ich habe ein Kind, Ma.«
Es schoß einfach heraus, wie ein Tier, das schon lange die Käfigtür belauerte.
Ihre Mutter brauchte lange, um zu antworten, lange genug, daß Christine sich wünschte, sie hätte nichts gesagt. Aber ihre
Mutter reagierte nicht wie erwartet: »Wie heißt er?«
»Sie, Ma. Sie heißt Sonia.«
»Ist sie zwei Jahre alt?« Ihre Mutter war nicht dumm.
»Ja.«
»Mein armes, armes Kind.« Dann weinten sie gemeinsam, über alles. Aber als ihre Mutter später fragte: »Wann kann ich mein
Enkelkind sehen? Zu Weihnachten?«, wich sie aus. »Ich arbeite über Weihnachten, Ma. Vielleicht nächstes Jahr.«
|143| »Ich kann runterkommen. Ich kann nach ihr sehen, während du arbeitest.« Sie hörte die Verzweiflung in der Stimme ihrer Mutter,
eine Frau, die etwas Gutes und Schönes in ihrem Leben brauchte, nach Jahren voller Probleme. In diesem Augenblick wollte Christine
es ihr geben. Sie war so willens, ihre Schuld zurückzuzahlen, aber sie hatte immer noch ein Geheimnis, das sie nicht teilen
konnte.
»Wir kommen dich besuchen, Ma. Im Januar, ich verspreche es dir.«
In jener Nacht arbeitete sie nicht.
In jener Nacht, nachdem Sonia eingeschlafen war, ritzte sie sich zum ersten Mal. Sie hatte keine Ahnung, warum sie das tat.
Vielleicht wegen ihres Vaters. Sie wühlte im Badezimmer herum und fand nichts. Also versuchte sie die Küche. In einer Schublade
fand sie das Messer, mit dem sie Gemüse schälte. Sie trug es ins Wohnzimmer und setzte sich, sie sah sich an und wußte, daß
sie sich nirgends schneiden dürfte, wo man es sah – nicht in ihrem Beruf. Deswegen wählte sie ihren Fuß, den weichen Teil
zwischen Ferse und Ballen. Sie drückte das Messer hinein und zog. Das Blut begann zu fließen und ängstigte sie. Sie humpelte
ins Badezimmer und hielt ihren Fuß über die Badewanne. Spürte den Schmerz. Sah die Tropfen den Rand der Badewanne herunterlaufen.
Später wischte sie die Blutspur auf. Sie spürte den Schmerz, weigerte sich, daran zu denken, wußte, daß sie es wieder tun
würde.
Auch am nächsten Tag arbeitete sie nicht. Es war Anfang Dezember, der Supermonat. Sie wollte nicht mehr weitermachen. Sie
wollte ein Leben, in dem sie Sonia sagen konnte: »Granny Martie kommt zu Besuch.« Sie hatte es satt, bei der Kinderfrau zu
lügen, die anderen Mütter in der Krippe anzuschwindeln. Sie hatte ihre Klienten und ihre lächerlichen Wünsche satt, ihre Bedürftigkeit.
Sie wollte ja sagen, wenn das nächste Mal ein höflicher, gutaussehender Mann bei McDonald’s an ihren Tisch trat und fragte,
ob er sie auf ein Eis einladen dürfte. Nur einmal.
|144| Aber es war Weihnachtszeit, es gab Geld zu verdienen.
Sie vereinbarte einen Deal mit sich selbst. Im Dezember würde sie so viel arbeiten wie möglich. Damit sie es sich leisten
konnten, den Januar bei ihrer Mutter in Upington zu verbringen. Und wenn sie zurückkamen, würde sie sich eine andere Arbeit
suchen.
Sie hielt sich daran. Martie van Rooyen genoß die zwei Wochen mit ihrer Enkeltochter in Upington. Und sie ahnte auch etwas
vom Leben ihrer Tochter. »Du hast dich verändert, Christine. Du bist so hart geworden.«
Sie log ihre Mutter an darüber, was sie tat, sie sagte, sie würde hier und dort arbeiten. Sie schnitt sich im Badezimmer ihrer
Mutter in den anderen Fuß. Diesmal sagte ihr das Blut, daß sie aufhören mußte. Aufhören mit all dem.
Am nächsten Tag erzählte sie ihrer Mutter, daß sie hoffte, eine Festanstellung zu bekommen. Und das gelang ihr auch.
Sie wurde Verkaufsrepräsentantin einer kleinen Firma, die medizinische Gesichtscremes aus dem Extrakt von Meeresbambus herstellte.
Sie mußte die Apotheker in der Innenstadt und den südlichen Vororten kontaktieren. Das ging zwei Monate lang gut. Das erste
Problem trat auf, als sie in eine Apotheke in Noordhoek kam und den Apotheker als einen ihrer ehemaligen Klienten erkannte.
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