Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Atem des Rippers (German Edition)

Der Atem des Rippers (German Edition)

Titel: Der Atem des Rippers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
Vater.“
    Allmählich erstirbt das Lächeln auf Papst Leos Lippen. Nichts deutet darauf hin, dass eine Emotion wie Zorn ihn erfüllt. Und doch verspüre ich entsetzliche Angst vor ihm. Er wird ernst, wie ein Richter, bevor er das gerechte Todesurteil verkündet.
    „Und was hat der englische Mediziner zu dem Wunder von Sant’Antonios Leber zu sagen?“, fragt er. Es ist unmöglich, zu entscheiden, wem seine Frage gilt, denn seine Blicke richten sich auf das Kästchen, das ich zitternd gegen meine Brust drücke.
    „Ich wollte nicht …“, beginne ich, zunächst auf Englisch, dann füge ich in lateinischer Sprache etwas hinzu, das ich selbst nicht verstehe.
    „Er sagt“, meint der Geistliche, der mich herführte, hebt seinen Kopf ein klein wenig an und sieht in meine Richtung, „es handle sich um die Leber eines Schweins, das seit weniger als fünfzig Jahren tot ist.“
    In diesem Moment setzt meine Erinnerung auf mysteriöse Weise aus. Ich weiß nicht, ob der Papst etwas sagte, ich weiß nicht, was aus dem Kästchen mit der Leber in meiner Hand wurde – habe ich es jemandem gegeben, irgendwo abgestellt, fallen gelassen oder gar von mir geschleudert? Diese Details sind im Dunkel der Vergangenheit begraben, und es bedarf wohl der Tagebücher anderer, um sie zu erhellen. Auch wie ich an den Männern vorbeikam, ist mir nicht bekannt. Ich mag sie weggestoßen oder ihnen einfach nur ausgewichen sein. Ich bin mir heute sicher, niemanden von ihnen verletzt zu haben – aber nur deshalb, weil ich in den Zeitungen der folgenden Tage nichts Diesbezügliches las.
    Ich komme zu mir, als ich einen der Flure entlang haste. Ich höre meinen Atem nicht wie einen Atem, sondern wie ein hysterisches Schreien, ein Aufheulen – ich muss außer mir sein vor Angst. Wie gut diese Redewendung es trifft: ich bin außerhalb von mir; ein Teil von mir prescht sinnlos, ziellos durch das unterirdische Labyrinth, ein anderer beobachtet mich dabei, wie ich es tue.
    „Guardiano!“ Der Ruf nach den Wachen. Und dann die Wachen. Ein Dutzend von ihnen glaube ich zu sehen. Sie scheinen kaum mit den Räumlichkeiten vertraut zu sein. Scheinen sich über der Erde bemüht zu haben, Ordnung in die Pilgermassen zu bringen und zu vermeiden, dass wertvolle Kirchengüter beschädigt oder entwendet werden.
    Das Wunder ist, dass ich das Gefühl habe, jemand zeige mir den Weg in die Freiheit. Winzige … Lichtblitze, vielleicht die Anstrengung und der Sauerstoffmangel. Doch wenn ich ihnen folge, entgehe ich meinen Häschern. Eine halbe Stadt liegt unter der Basilika verborgen, und ich lerne jede einzelne ihrer Gassen kennen, auf meiner aussichtlosen und doch so wundersam erfolgreichen Flucht. Nach einer halben Stunde steigen schwarzgekleidete Polizeibeamte in die Gewölbe herab – jeder einzelne von ihnen sieht es zum ersten Mal – und ziehen das Netz enger um mich.
    Und doch bekommen sie mich nicht. Lichter, Stimmen, plötzliche Eingebungen, Ahnungen retten mich. Während der Atem heiß und pfeifend in meine Lungen fährt, beginne ich dem Heiligen Antonius zu danken. Und irgendwann finde ich mich an der Oberfläche. Es ist Abend – einen halben Tag muss ich unter der Erde verbracht haben, Spukerscheinungen und Ahnungen hinterher laufend und mich versteckend.
    Als ob der Wunder noch nicht genug getan wären, stehe ich auf dem Kopfsteinpflaster der Straße, in der sich meine Pension befindet, und habe nicht die geringste Vorstellung davon, wie ich dorthin gelangt bin. Die Straßenlampen flackern. Ein paar Schritte, und ich kann mich in mein Quartier zurückziehen, wo ich mich für einige Minuten sicher fühle. Dann beginne ich mich davor zu fürchten, die ganze Stadt könne mir auf den Fersen sein, und ich werfe hastig meine Kleidungsstücke in den Koffer, um noch im Schutze der Nacht aufbrechen und diese Stadt hinter mir lassen zu können.
    Ich hätte es getan, wäre mir nicht das nächste Wunder widerfahren.
    Das Zimmermädchen oder die Tochter des Hauses – oder beides – stürmt mit südländischem Temperament in mein Zimmer, um nach dem Rechten zu sehen. Sie hat laute Geräusche gehört und ist beunruhigt worden. Zweifellos ist mein ungelenkes Herumzerren des Koffers durchs ganze Haus gedrungen; vielleicht habe ich in meiner Verwirrung sogar die Möbel verrückt und Bilder von den Wänden gerissen – ich weiß es nicht mehr.
    Ich sehe sie nur noch vor mir stehen, mit den langen, widerspenstigen schwarzen Haaren, der sich aufgeregt hebenden Brust.

Weitere Kostenlose Bücher