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Der Atem des Rippers (German Edition)

Der Atem des Rippers (German Edition)

Titel: Der Atem des Rippers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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in toten Körpern wohnt, hatte ich in den Gewölben unter der Basilika erfahren, als mich der Heilige Antonius selbst unter seine Fittiche genommen und unbeschadet an die Oberfläche geführt hatte.
    Mein Weg wurde an jenem 13. Juni des Jahres 1881 vorgezeichnet. Obwohl meine Mutter der anglikanischen Kirche angehörte, musste ich zur katholischen Kirche konvertieren – die anglikanische Kirche stand und steht in ihrer feigen Übervorsicht der Reliquienverehrung ausgesprochen kritisch gegenüber. Ich hatte kein Interesse, gegen die in dieser Kirche herrschenden Vorstellungen zu rebellieren. Mir dürstete es nicht danach, die Welt zu verändern. Ich wollte an dem Ort sein, an dem ich Gottes Fingerzeig folgen konnte.
    Noch im Laufe des Junis gab ich meine Arbeit am General Hospital in Birmingham auf. Ich trat zum Katholizismus über und begann das Studium der Theologie. Mein Spezialgebiet waren von der ersten Unterrichtsstunde an die Reliquien, und innerhalb der folgenden Jahre würde ich zu einer kleinen Koryphäe in diesem Fach heranwachsen.
    Ich unternahm mehrere Forschungsreisen nach Italien und Österreich-Ungarn. Im Jahr 1886 kam ich als Dekan nach London, in die Kirche St. Patrick’s im Londoner Osten, keine Meile von dem Stadtteil Whitechapel entfernt, den meine späteren Taten so sehr in den Mittelpunkt des Interesses einer sensationsgierigen Öffentlichkeit rücken würden.
    Die Italienerin, die sich am Abend jenes 13. Juni 1881 in Padua an der körperlichen und seelischen Hitze eines auserwählten Chirurgen gelabt hatte, war nicht die erste Frau gewesen, mit der ich die Liebe genossen hatte, doch die letzte. Die Momente mit ihr waren in ihrer Leidenschaft so vollkommen und göttlich gewesen, dass kein späteres Zusammensein mit einer Frau sie hätte übertreffen können oder ihnen auch nur hätte gleichkommen mögen. Auch in diesem Punkt hatte Gott mir geholfen, denn so fiel mir der Abschied von den Sinnenfreuden und der Übergang in ein zölibatäres Priesteramt keinen Augenblick lang schwer. Der Himmel hatte mir am Abend des letzten Tages meines Laienlebens alles geschenkt, was ein solches Dasein mir jemals hätte bieten können. Es war leicht, so leicht, einen Schlussstrich unter etwas zu ziehen, das einem keine Steigerung mehr versprach.
    Nie wieder in meinem Leben verspürte ich eine geschlechtliche Lust – ich war für alle Zeit kuriert davon, nicht durch ein grauenhaftes Ereignis, das Abscheu oder Hass in mir geweckt hätte, sondern durch ein sinnbetörendes Erleben, das die Bezeichnung Wunder wahrlich verdient.
    Ich habe in meinem Leben nie eine Frau gehasst. Das ist es, was die Presse nicht verstehen kann.

6
    Walter Sickert ließ die Seiten aus seinen Fingern gleiten. Stöhnend rollte er sich zur Seite. Seine Hände waren taub vom krampfhaften Festhalten der Seiten, sein Nacken schmerzte, und sein Rücken war steif geworden. Mühsam setzte er sich auf.
    Hier endeten die Aufschriebe auf den losen Blättern. Das Tagebuch schloss sich an, mit dem 13. Juni 1888. Sickert versuchte sich zu erinnern. Hatten die Rippermorde damals nicht im August begonnen?
    Er blätterte zum Ende der Aufschriebe. Der letzte Eintrag datierte vom 9. November. Danach folgte noch ein Zeitungsartikel.
    Mittlerweile war es neun Uhr. Wenn er noch ein Abendessen wollte, musste er sich allmählich auf die Suche nach einem Restaurant machen. Aber der Gedanke, das Tagebuch im Zimmer zurücklassen zu müssen, gefiel ihm so wenig wie der, es nach draußen mitzunehmen.
    Etwas zu essen war jetzt nicht wichtig. Er würde bis zum Frühstück hungern. Bis dahin würde er seine Lektüre beendet haben.
    Er würde der erste Mensch sein, der die Hintergründe der Ripper-Morde kannte.
    Die Vorstellung ließ ihn frösteln, und er wickelte sich erneut in die zerschlissene Decke.
    13. Juni 1888
    Sieben Jahre sind vergangen, seit der Heilige Antonius mich erwählte – ein erneuter Namenstag und eine Gelegenheit, sich an Vergangenes zu erinnern und erste Bilanz zu ziehen. Ich erachte es für einen guten Zeitpunkt, um mit dem Abfassen eines Tagebuchs zu beginnen.
    Seit zwei Jahren erfülle ich hier in St. Patrick’s im Stadtteil Wapping das Amt eines Dekans, und ich kann von mir behaupten, mit der mir vom Herrn aufgetragenen Arbeit glücklich zu sein. Die täglichen Aufgaben lassen mir genügend Zeit, mich der Erforschung von Reliquien zu widmen, und der hiesige Priester, Henry Ouston, ist ein alter, intelligenter Mann, der nichts dagegen

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