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Der Atem des Rippers (German Edition)

Der Atem des Rippers (German Edition)

Titel: Der Atem des Rippers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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einzuwenden zu haben scheint, wenn ein beträchtlicher Teil unserer finanziellen Mittel in den Erwerb neuer Reliquien oder diese betreffender Fachbücher fließt – auf meinen Antrieb hin natürlich. Er gehört zu jenen Menschen, die zwischen der ihnen angeborenen Milde und der ihnen anerzogenen Strenge hin und her schwanken, und manchmal kann er deshalb zu raschen, schlecht vorherzusehenden Gemütsschwankungen neigen.
    Londons frommes Leben ist weitgehend in der Hand der Anglikaner, und der Priester scheint meine Theorie zu teilen, dass wir den Beistand der Heiligen bitter nötig haben, um uns zu behaupten.
    Unsere Gemeinde setzt sich zum großen Teil aus irischen Einwanderern zusammen, geradlinige, aufrechte Menschen, die auch dann noch den Herrn preisen, wenn sie bis zur Gurgel mit Alkohol gefüllt sind. Meiner stetig wachsenden Sammlung von Reliquien bringen sie zwar nicht die tiefe, glühende Verehrung entgegen, wie es die Italiener täten, doch scheinen sie sich in der Gesellschaft der Gebeine wohl zu fühlen, die den Altarbereich der Kirche füllen. Eine Irin würde niemals tun, was die namenlose Italienerin in meiner Herberge in Padua tat, doch die Iren lieben die Toten und ihre Knochen, viel mehr als die Engländer, und ich glaube, viele von ihnen hätten mich verstanden, wenn ich ihnen meine Geschichte erzählt hätte – vor den Ereignissen in Whitechapel und vielleicht sogar danach.
    Seit ich das Stück einer Rippe des Lazarus aus Südfrankreich erworben habe, fühle ich mich diesem Heiligen enger verbunden. Nach und nach beginnt er in meinem Leben eine größere Rolle zu spielen als der gute Antonius, dem ich meine Flucht aus den Gewölben und meine Errettung von den Fleischeslüsten zu verdanken habe. Antonius ist der Schutzheilige der Reisenden, und seine Reliquien beschützten mich, als ich auf Reisen war. Doch nun bin ich nicht mehr unterwegs und nicht mehr auf der Suche.
    Ich bin sesshaft geworden, ein Mann, der die Kraft der Toten erweckt, wie Jesus den Lazarus vier Tage nach dessen Tode erweckte. Lazarus ist der Schutzheilige der Metzger und Totengräber, der Kranken und der Krankenhäuser. Ich bin kein Metzger und kein Totengräber, und dem Hospital habe ich den Rücken gekehrt, und doch ist von alldem etwas in mir.
    Lazarus ist mein Schutzheiliger, seine Rippe gibt mir Kraft, und ich werde darauf bedacht sein, seinen Namenstag am 31. August in gebührender Weise zu begehen.

7
    Walter Sickert kroch aus dem Bett und kramte in seiner kleinen Reisetasche nach einem Biskuit, das er auf dem Schiff eingesteckt hatte. Er ahnte, dass ihm der Appetit bald vergehen würde – vielleicht für lange Zeit.
    19. Juli 1888
    Der Priester hat mich heute erstmals im Zusammenhang mit meinen Reliquien gerügt. Habe ich „meine Reliquien“ geschrieben? Nein, es sind unsere, die Gebeine der Kirche und die Gebeine des Herrn. Der ganzen Menschheit gehören sie, und doch betrachte ich sie als meine eigenen Schutzheiligen, und es stimmt, ich halte mich nur noch in ihrer Nähe auf und fühle mich nur noch in der Anwesenheit der Heiligen entspannt und glücklich. Wann immer ich die Kirche verlassen muss, komme ich mir schutzlos und nackt vor; ich werde unsicher und gereizt, und der Priester sagt, ich schade damit dem Ruf unserer Kirche.
    Er hat nicht Unrecht, doch es ist nun einmal ein Leben für die heiligen Reliquien, das ich wählte, und mir sollte das Recht zugestanden werden, mich immerzu in ihrer Nähe aufhalten zu dürfen. Es besteht kein Grund, mich hinauszuschicken in die kalte Stadt, in das sündige East End, um gefallenen Mädchen die frohe Botschaft zu überbringen, lächerlich pathetische alte Damen auf dem Sterbebett zu besuchen oder bei Wohltätigkeitsbazaren und religiösen Vorträgen zu assistieren. Andere können das tun. Warum überlässt man mich nicht ganz meiner Arbeit? Habe ich nicht eine Karriere als Chirurg ausgeschlagen, um Gottes Auftrag zu erfüllen?
    Ich habe Gott um ein Zeichen gebeten, doch der Herr lässt mich warten.
    Der Kunstmaler drehte sich zur Seite und wollte eben die Seite umschlagen, als ein resolutes Klopfen an der Zimmertür ihn zusammenfahren ließ.
    „Mr. Sickert?“, klang die volltönende Stimme der Herbergsmutter durch das Zimmer, als gebe es die Tür dazwischen nicht.
    „Was … wollen Sie?“ Sickert hustete und versuchte seine Stimme wiederzufinden, die ihm durch den Schrecken abhanden gekommen war. Das Tagebuch steckte er zunächst unter das Kopfkissen, dann zog er

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