Der Atem des Rippers (German Edition)
Türwächter und lässt uns kommentarlos passieren. Ich entsinne mich, dass es mir leidtut, ihn gestört zu haben.
Was ich zu Gesicht bekomme, könnten Schatzkammern sein oder gewaltige Lagerstätten für wertloses Gerümpel. Oder von beidem etwas. Über die stickige Luft und den allgegenwärtigen Staub brauche ich nichts zu schreiben – er erscheint mir so selbstverständlich, wie er jedem Leser erscheinen wird.
Plötzlich halte ich ein Kästchen in der Hand, aus erstaunlich leichtem, dunklem Holz. Mein Führer hat es mir ohne jede Feierlichkeit, beinahe hastig, überreicht, und ich beginne unwillkürlich seine Oberfläche zu befühlen. Es gibt zu wenig Licht. Ich kann die Ornamente besser spüren, als ich sie zu sehen vermag.
„Das ist es?“, frage ich und sehe ihn in den Schatten geheimnisvoll nicken.
„Ich führe dich an einen Ort, an dem du es untersuchen kannst“, meint er, und für einen Moment habe ich die lächerliche Vermutung, er rede von dem Behälter und nicht etwa von dessen Inhalt.
Es ist, als müssten wir die Hälfte des Weges wieder zurück gehen, doch offenbar haben wir eine andere Abzweigung genommen, denn wir kommen nicht an dem verwachsenen Wächter vorbei. Das Kästchen scheint in meinen Händen schwerer zu werden, und ich bin erleichtert, als ich es in einem verhältnismäßig großen, sauberen und gut ausgeleuchteten Raum auf einen Tisch stellen kann.
Die Kammer erinnert mich an die Räume, in denen man in Krankenhäusern die Toten aufbewahrt. Ein paar einfache Instrumente liegen bereit, wenige Chemikalien stehen ihn rohen Regalen. Die Aufschriften der Phiolen sind mir geläufig, wo die Mittel in den Dunstkreis der medizinischen Praxis gehören – andere scheinen auf religiösen Überlieferungen fußende Kräuterextrakte zu sein.
Der Geistliche nimmt den Behälter an sich und öffnet ihn. Anstatt ihn auf dem Tisch abzustellen, gibt er mir das geöffnete Holzkästchen zurück. Er scheint sicher, dass ich es nicht vor Schreck fallen lassen werde, obgleich manch anderer es getan hätte.
Ich erkenne die Leber sofort, trotz aller Verfärbungen und Verformungen, die sie in ein schwärzliches, kohleartiges Stück Materie verwandelt haben. Unwillkürlich hebe ich den Behälter an meine Nase und schnüffle an seinem Inhalt. Er ist nahezu geruchlos. Das Organ scheint nicht besonders gut konserviert zu sein, doch das hängt letztlich davon ab, wie alt es ist. Will man mir etwa weismachen, dies sei die …?
„Eine Reliquie?“, vermute ich, bemüht um eine rasche Antwort, ehe meine Fantasien mit mir durchgehen.
Der Geistliche massiert sich den Nacken, als hätte er mit Verspannungen zu kämpfen. „Die Leber des Heiligen Antonius.“
Die Worte habe ich vorausgeahnt – und mich darauf vorbereitet, ihm das überzeugte „Nein“ entgegen zu schleudern, das einem Menschen von wissenschaftlicher Bildung manchmal zuzustehen scheint. Ich tue es nicht. Stattdessen sehe ich mich um und frage: „Möchten Sie, dass ich es glaube, oder dass ich es beweise?“ Die Frage ist ungeschickt formuliert, klingt viel boshafter als sie gemeint war.
„Mein Sohn“, holt der Kirchenmann tief Luft, „es wäre schön, wenn du dieses schwarze Stück Geheimnis untersuchen und seine wahre – seine wissenschaftliche Existenz bestimmen könntest. Dazu habe ich dich an einen Ort geführt, den seit mindestens einhundert Jahren kein Laie des Glaubens mehr betreten hat.“
Eine Stunde später habe ich die Leber einem Dutzend Tests unterzogen. Ich habe das Gefühl, sehr viel darüber in Erfahrung gebracht zu haben – in wissenschaftlicher Hinsicht –, doch ich bin mir nicht im Klaren, wie ich das Thema ihm gegenüber angehen soll. Die ganze Zeit über hat er mir schweigend über die Schulter gesehen, und nun erwartet er eine Antwort. Ich versuche es mit einigen größtenteils griechischen Fachbegriffen und bemerke, wie sich seine dunklen Augenbrauen nur weiter ins Gesicht ziehen.
„Es ist eine Leber, zweifellos“, beginne ich meine Bemühungen, mich allgemeinverständlich und umgangssprachlich auszudrücken, was lächerlich scheitert, da ich ja lateinisch mit ihm kommuniziere. „Aber nicht die eines Menschen. Ich bin mir ausgesprochen sicher, dass sie einem Schwein gehört.“ Als das Wort „porcus“ über meine Lippen kommt, zucke ich zusammen. Er nicht. Er lauscht meinen Worten aufmerksam.
„Ich empfinde keine Angst, die Wahrheit zu hören, mein Sohn“, lautet seine sorgfältig formulierte Erwiderung.
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