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Der Atem des Rippers (German Edition)

Der Atem des Rippers (German Edition)

Titel: Der Atem des Rippers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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„Seit Jahrzehnten dürstet es mich nach einer Erhellung dieses Punktes.“
    Ich richte mich auf und komme mir sehr wichtig und klug vor. „Außerdem ist das Präparat unter keinen Umständen 650 Jahre alt. Die Konservierungspraxis hat sich in dieser Zeit mehrfach geändert. Auch wenn diese Leber eine ausgesprochen minderwertige Arbeit darstellt“ – ich mache eine Kunstpause wie ein dozierender Professor – „wurde sie unter Verwendung einer Technik konserviert, die uns erst seit weniger als einem Jahrhundert zur Verfügung steht. Ich billige diesem Organ ein Alter von maximal fünfzig Jahren zu, vermutlich deutlich weniger.“
    Er wendet den Blick ab, als hätte ich mehr gesagt als nötig.
    „Meine Kenntnisse über Reliquien sind begrenzt“, hake ich nach. „Bislang dachte ich, nur Knochen und Kleidungsstücke seien Gegenstand der Verehrung. Von der Konservierung innerer Organe war mir nichts bekannt …“
    „Es ist ein Unikat“, sagt mein Gegenüber. „Mehr als das. Ein Wunder. Das heißt … es war ein Wunder. Bis zu diesem Moment.“
    „Hören Sie!“, rufe ich. „Es tut mir aufrichtig leid, falls ich ...“
    Er winkt müde ab. „Bringen wir es zurück“, meint er, und eilig packe ich die kohleartige Schweinsleber in das Behältnis zurück. Ich komme mir dumm dabei vor, als versuchte ich, das Ergebnis meiner Untersuchung zu beschönigen. Abwesend sehe ich zu, wie er das Licht in dem laborartigen Raum löscht, und wir gehen den Weg zurück, den ich aus eigener Kraft nie gefunden hätte.
    Und dann ereignet sich das Wunder, und es beginnt wie ein Albtraum.
    Der Ort, an dem die ungewöhnliche Reliquie lagerte, ist nicht mehr menschenleer wie zuvor. Einige Gestalten haben sich dort in den Schatten versammelt. Obwohl nichts darauf hindeutet, dass sie etwas suchen, weiß ich, weshalb sie hier sind.
    Das Unikat. Das Wunder.
    Ich registriere die unterschiedlichen Roben der Männer. Es sind Geistliche wie jener, der mich herabgeführt hat, doch der Prunk ihrer Gewänder hebt sie von dem schlichten Talar meines Führers ab. Es sind hochrangige Würdenträger der katholischen Kirche. Bischöfe vielleicht, oder …
    „Heiliger Vater!“, höre ich Worte, die ich kaum zu glauben vermag. Ich starre den vordersten der Männer an und meine ein Gesicht zu erkennen, das ich in der Zeitung und auf Gemälden gesehen habe.
    Den Papst!
    Das heilige Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche, Leo, der Dreizehnte, steht keine fünf Schritte von mir entfernt in den Schatten des Gewölbes. Ich glaube zu träumen, das Plötzliche an der Situation verhindert, dass ich mir meiner Lage recht bewusst werde. Er ist ein alter, hagerer Mann; seine Augen, die auf Porträts stets wach und aufmerksam wirken, kann ich bei diesen Lichtverhältnissen nicht ausmachen, doch seine Lippen scheinen zu lächeln. Später werde ich erfahren, dass er zu dieser Zeit 71 Jahre alt ist und einige der schwersten Jahre seines Lebens hinter sich hat. Ich werde oft an diesen Moment zurückkehren. Auch ohne das Wunder wäre es ein unvergesslicher Augenblick gewesen.
    Der Mann, der mich hergeführt hat, sinkt zu Boden und kriecht auf den Heiligen Vater zu, um ihm die Füße zu küssen. Ich kann mich nicht dazu überwinden, es ihm nachzutun. Unschlüssig bleibe ich stehen, vielleicht in der Hoffnung, erst gar nicht seine Beachtung zu finden.
    Der Papst spricht Italienisch, sehr leise, aber langsam und deutlich. Beinahe jedes Wort davon erschließt sich mir. Es ist ein erschreckend einfacher, schlichter Dialog, der sich zwischen ihm und meinem Führer entwickelt. In seinem Verlauf wird mir der kalte Schweiß ausbrechen.
    „Die Leber des Heiligen Antonius“, sagt der Heilige Vater. „Es ist nicht gut, sie hier unten zu verbergen. Ihre Unversehrtheit ist ein weit größeres Wunder als die Existenz der heiligen Gebeine. Ihr versündigt euch, indem ihr den Pilgern die Kraft und den Segen dieser Reliquie vorenthaltet.“
    Der Kopf Papst Leos des Dreizehnten hebt sich, seine Blicke schwenken auf mich. Es ist, als bemerke er in diesem Augenblick zum ersten Mal das kleine Kästchen in meinen Händen. Diese Annahme ist sehr wahrscheinlich, bei den gegebenen unvorteilhaften Lichtverhältnissen.
    „Dieser junge Mann ist ein Mediziner aus England, Heiliger Vater“, sagt der Geistliche dumpf, der sein Gesicht noch immer gegen die Füße des Papstes presst.
    „Ich verstehe nicht, mein Sohn.“
    „Er hat die Reliquie untersucht, auf meine Bitte hin, Heiliger

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