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Der Atem des Rippers (German Edition)

Der Atem des Rippers (German Edition)

Titel: Der Atem des Rippers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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abschließend mit ungewöhnlicher Betroffenheit: „Dies ist einer der schrecklichsten Fälle, die man sich vorstellen kann. Der Mann, der diese Frau in dieser Weise attackiert hat, muss ein vollkommener Wilder gewesen sein.“
    Hier endete der Artikel, und Sickert wandte sich wieder den handschriftlichen Eintragungen Alan Sparebornes zu. Er war aufs Äußerste gespannt, welche Enthüllungen ihn erwarteten. Er glaubte sich vage an den Mord an Martha Turner zu erinnern, die später als Martha Tabram bekannt wurde. Wenn er sich nicht irrte, war man irgendwann dazu übergegangen, sie nicht zu den Ripper-Opfern zu zählen. War dies ein Irrtum? Hatte der Mörder an ihr ein erstes Exempel statuiert?
    Ohne wieder ins Bett zu kriechen, blieb er in verkrümmter Haltung neben der kleinen Lampe sitzen, die seine Augen schmerzte, und setzte seine Lektüre fort.
    12. August 1888
    Etwa Unvorstellbares hat sich in unserer Nachbarschaft zugetragen. Erst heute habe ich davon erfahren, denn die Tageszeitung gehört nicht zu meiner gewöhnlichen Morgenlektüre.
    Ich habe mich ein wenig von der schrecklichen Nachricht meiner bevorstehenden Reise nach Britisch-Indien erholt – das Fieber ist gesunken, wenngleich noch nicht verschwunden, und ich konnte heute wieder einigen meiner Aufgaben nachkommen. Es war unmöglich, einen Schritt vor das Kirchentor zu setzen, ohne davon zu erfahren. Auch Pater Henry Ouston ist in seiner Heiligen Messe am Morgen darauf eingegangen, wie ich erst gegen Mittag erfuhr, da ich mich von ihr ferngehalten hatte.
    Am Dienstag hat man eine ermordete Frau in Whitechapel gefunden. Die entsprechenden Zeitungsartikel klebe ich in dieses Tagebuch. Meine Gedanken kreisen zurzeit vor allem um die 39 Messerstiche, unter anderem in den Unterleib der Getöteten, als habe ihr Mörder ungeschickt versucht, ihre Genitalien zu entfernen. Ob der Mann, der es getan hat, ein Wilder ist, wie der Leichenbeschauer es formuliert, scheint mir fraglich. Offenbar war er nicht allein darauf aus, sie zu töten, denn dazu hätten ein oder zwei Stiche vollkommen ausgereicht.
    Warum mir wohl in diesem Zusammenhang die laienhaft konservierte Schweinsleber aus der Basilika Sant’Antonio einfällt? Vielleicht ist die Zeit gekommen, um auch konserviertes Fleisch in den ehedem knöchernen Reigen der Reliquien aufzunehmen. Die Möglichkeiten dazu stellt die Naturwissenschaft bereit. In Padua hatte jemand versucht, die Leber eines Schweins zur Reliquie zu machen. In Whitechapel hatte nun möglicherweise jemand eine ähnlich verwegene Idee – er wollte den Geschlechtsorganen einer Straßendirne zum ewigen Leben verhelfen. Vielleicht hatte er das Formalin schon bereitgestellt.
    So dilettantisch die Leber präpariert worden war, so schlampig ist auch der Unbekannte von Whitechapel vorgegangen. Gesetzt den Fall, er hatte tatsächlich die Absicht, die ich ihm unterstelle, fehlten ihm vermutlich die Kaltblütigkeit und die anatomischen Kenntnisse, um das Werk recht anzugehen.
    Bereits in Padua hatte ich mich zweierlei gefragt: Welchen Sinn ergab das alles, und: Hätte ich es besser gekonnt? Als Ziel der Leberkonservierung boten sich antikirchlicher Spott oder rituelle Gründe an. Und ja: Mit Sicherheit hätte ich das Organ gekonnter konserviert.
    Nun, angesichts des Vorfalls von Whitechapel, stellte ich mir dieselben Fragen erneut.
    Ich suchte unter meinen wenigen Habseligkeiten nach dem schwarzen, länglichen Chirurgenkoffer, dem einzigen Erinnerungsstück aus der Zeit vor meiner Bekehrung. Ihn habe ich behalten, um für alle Fälle gerüstet zu sein. Falls ich jemals mit einem Notfall konfrontiert werde, will ich nicht das Risiko eingehen, mit einem Küchenmesser operieren zu müssen.
    Schon seit längerer Zeit bedauere ich es, bei der Beschäftigung mit Reliquien auf jene Präparate verzichten zu müssen, die mich während des Medizinstudiums täglich umgeben haben. Organe in Spiritus sind sprühende Abbilder des Lebens, verglichen mit den staubigen Knochen in den Reliquienschreinen. Herzen, Lungen und Uteri bergen jene Lebenskraft in sich, die die Gebeine nur einzurahmen vermögen. Der Schädel ist nur das Gefäß für das Gehirn. Wenn bereits heilige Knochen so sehr vor Kraft strotzen, welche Macht mag dann in den Organen liegen?
    Ich habe in den Fortpflanzungsorganen der Prostituierten stets etwas Wundersames gesehen. Der tausendfache, millionenfache Akt muss sie zu etwas besonderem machen, wie der Druck die Kohle zum Diamanten formt und nur das

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