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Der Atem des Rippers (German Edition)

Der Atem des Rippers (German Edition)

Titel: Der Atem des Rippers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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beständige Hin-Denken und Her-Grübeln dem Hirn erhabene Weisheiten entlockt.
    Der Priester hat mir vorgeworfen, Reliquien als Amulette zu missbrauchen. Vielleicht hätte dieser Whitechapel-Mörder diese Kritik besser verdient als ich. Ich möchte ganz und gar nicht ausschließen, dass er die Idee hatte, sich ein Amulett aus einem ganz besonderen Körperteil zu machen. Auch wenn es eine grausame Tat ist; den sich dahinter verbergenden Gedankengang kann ich nachvollziehen.
    Ach ja. Ich hatte mir noch eine Frage gestellt und vergessen, sie zu beantworten: Ja, ich hätte die Aktion wesentlich geschickter über die Bühne gebracht. Mit festem Glauben, profunden anatomischen Kenntnissen und natürlich – mit dem Inhalt dieses Chirurgenköfferchens.
    Aber ich bin kein Mörder.
    Im Zimmer schien es kälter und kälter zu werden. Sickert zog die Decke vom Bett her an sich und wickelte sich gänzlich darin ein, ehe er weiterlas.
    17. August 1888
    Erst heute ist mir bewusst geworden, dass der Name der Getöteten, Martha Tabram oder Martha Turner, sich mit dem Namen einer der beiden Schwestern des Lazarus deckt. Lazarus’ Schwestern hießen Martha und Maria. Ein verborgener Hinweis?
    Ein Zeichen des Herrn?
    Das Fieber ist wieder stärker geworden. Ich kann den Stift kaum halten, werde mich kurz fassen.
    In zwei Wochen ist der Namenstag meines Schutzheiligen. Ich sollte etwas zu seinen Ehren tun. Etwas Großes, damit er mich beschützt. Es ist kurios. Er ist der Beschützer der Metzger und Totengräber, und obzwar ich doch keines von beiden bin, fühle ich mich bei ihm geborgen.
    Den Chirurgenkoffer habe ich unter meinem Bett verstaut.
    Was für ein Amulett gäbe die Vagina eines Straßenmädchens ab? Ich schreibe wirres Zeug. Das Fieber.
    Walter Sickert senkte den Kopf in seine Hände. Minutenlang las er nicht weiter, versuchte nachzudenken und zu begreifen, was vor sich ging. Er kam sich plötzlich vor wie ein Voyeur, der etwas mit ansah, was ihn nichts anging. Vielleicht war es besser, nicht weiterzulesen. Nein, mit Sicherheit war es das! Nicht nur lud er mit dem Wissen, das er in dieser Nacht erlangte, die moralische Verpflichtung auf sich, am nächsten Tag vor Scotland Yard eine Aussage zu machen und alles dazu beizutragen, dass dieser Mann, der nach nahezu fünfzehn Jahren wieder englischen Boden betreten hatte, gefunden wurde. Zusätzlich eignete er sich ein Wissen an, von dem er sein Leben lang nicht wieder loskommen würde. Sein Leben würde sich verändern, hatte sich bereits verändert, doch würde es mit jeder Zeile mehr tun, die er in diesem Buch las.

9
    Es war ein Kellerraum; es roch darin nach feuchter Kohle und saurem Schimmel. Der Boden war, soweit die beiden gelben Petroleumlampen das erkennen ließen, notdürftig gesäubert worden, während von der Decke der Moder rieselte. Was diesen Raum so unheimlich machte, war seine Schwärze. Die Wände waren vom Kohlestaub geschwärzt und wirkten wie verbrannt. Dieser Ort mutete an wie eine schlichte, uninspirierte Imitation der Hölle.
    Alan Spareborne war an eine Art Holzkreuz gefesselt worden. Seile banden ihn an die Konstruktion. Wo sie ihn hielten, drückten sie ihm das Blut ab, und er hatte das Gefühl, am Gewicht seines eigenen Körpers sterben zu müssen. Er trug noch immer seine Kleidung, doch die Schuhe waren ihm ausgezogen worden. Drei Schritte vor ihm, nahe an der gegenüberliegenden Wand, stand ein klobiger, morscher Tisch, darauf ruhte eine der beiden Lampen – die andere hing von der Decke herab –, und eine Frau saß dahinter, mit langen blonden Haaren und einer dunklen Haube. Sie hatte den Kopf gesenkt und schien lautlos zu weinen.
    Es gab nur ein einziges Fenster im Raum, ein wenig oberhalb des Ortes, wo die Frau saß – eine vergitterte, kleine Luke, hinter der Alan das Gesicht eines alten Mannes zu erkennen glaubte.
    „Er ist erwacht, Mary“, sagte eine raue Stimme, die zu diesem Gesicht gehören musste – die Schatten waren zu dick, um eine Bewegung des faltigen Mundes erkennen zu lassen. „Deine Arbeit beginnt. Verrichte sie gewissenhaft, und du wirst reich belohnt werden.“
    Die Frau zuckte hoch wie eine Marionette, deren Fäden plötzlich gerafft wurden. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und starrte Alan an. Er seinerseits sah sie an. Atemlose Stille herrschte für einige Sekunden in dem unterirdischen Raum, als die beiden Menschen sich taxierten.
    Die Frau war jung und durchaus hübsch. Die kleine Narbe an ihrem Kinn

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