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Der Atem des Rippers (German Edition)

Der Atem des Rippers (German Edition)

Titel: Der Atem des Rippers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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zerstörte nicht die Ebenmäßigkeit ihrer Züge, und selbst die geröteten Augen und die vom Weinen geschwollene Nase vermochten die Anmut dieses mädchenhaften Gesichts nicht zu verbergen. Ihre Augen verrieten, dass sie viel Härte und Pein erlebt haben musste, doch ihre Züge hatten noch keine Zeit gehabt, all die Qualen zu dokumentieren. Sie wirkte wie eine Gefangene, und Alan fühlte sich ihr spontan verbunden, doch sie war nicht gefesselt, und er vermutete, dass sie diesen Raum verlassen konnte, wenn sie es wirklich wollte. Etwas hielt sie hier, bei ihm, war stärker als ihre nur zu offensichtliche Angst.
    Die Belohnung, die der Alte ihr in Aussicht stellte.
    Die Kleidung und das Gebaren der Frau weckte in Alan Spareborne die Annahme, es könne sich um eine Prostituierte handeln. Ein Straßenmädchen namens Mary …
    Alan war zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage, die Umstände dieser Situation zu durchschauen. Er spürte nur, dass er auf schreckliche Weise in Gefahr war.
    Erst jetzt entdeckte er die beiden Gegenstände, die vor der Frau auf dem Tisch lagen. Das eine war nichts als ein Schreibblock, und er konnte aus dieser Entfernung nicht entdecken, ob die oberste Seite leer oder beschrieben war. Doch da ein Schreibgerät nirgends zu sehen war, musste er davon ausgehen, dass von der Frau nicht erwartet wurde, etwas hineinzuschreiben. Sie sollte vielmehr etwas davon ablesen. Weitaus mehr fesselte seine Aufmerksamkeit das zweite Objekt. Es war ein langes Messer, wie es auch zu seiner Chirurgenausrüstung gehört hatte. Die Klinge war poliert worden – und gewiss nicht nur das. Sie blitzte ihn bedrohlich an.
    Die Frau schien etwas sagen zu wollen, doch die Stimme aus dem winzigen Fenster hinter ihr meinte ruhig, aber mit Nachdruck: „Fang an. Jetzt.“
    Verwirrt tastete das Mädchen nach dem Schreibblock, rückte die Lampe näher und folgte mit dem Zeigefinger offenbar einer Zeile. Dann vernahm Alan zum ersten Mal ihre Stimme. Leicht und dünn war sie, wie die eines Schulmädchens.
    „Sind Sie … Mr. Alan Spareborne?“, lautete ihre erste Frage. Sie las langsam und stockend; allem Anschein nach hatte sie wenig Übung im Lesen und setzte die Buchstaben mühsam zu Wörtern zusammen. Bei der Abkürzung für „Mister“ blieb sie hängen und machte drei hilflose Versuche, die beiden Lettern auszusprechen, bis sie hinter ihr Geheimnis kam.
    Alan empfand Mitleid mit dem jungen Ding.
    „Ja“, erwiderte er und räusperte sich mehrmals. Seine Stimme klang kalt, glitschig und klamm wie dieses unterirdische Verlies. „Mein Name ist Alan Richard Spareborne.“ Was für einen Sinn machte es, irgendetwas zu leugnen? Das Mädchen und das Chirurgenmesser hypnotisierten ihn. Er hatte nicht das Gefühl, dass sie den Mut haben würde, das Messer auch nur zu berühren. Aber da war ein Schatten hinter ihr, und Alan spürte, dass er für jede Lüge, die er aussprach, große Schmerzen würde erleiden müssen.
    Das Mädchen nickte. Ob sie seine Worte wirklich gehört hatte, stand zu bezweifeln. Offenbar hakte sie in Gedanken nur die erste Frage ab, nachdem sie sie gestellt hatte. Wie viele mochten noch auf ihrer Liste stehen?
    „Sie sind katholischer Geistlicher?“
    „Ja, das bin ich.“
    „Sind Sie … Jack the Ripper?“
    Alan hatte die Frage erwartet und war doch überrascht, dass sie so früh kam. Die Frau sah ihn jetzt an. Ihre weiße Stirn war gerunzelt. Zum ersten Mal zeigte sie so etwas wie echtes Interesse. Sie wollte seine Antwort hören. War neugierig, wie er sie formulieren würde. Wollte eine Regung in seinen Augen sehen.
    „Ja“, sagte er nur. Er wusste nicht, was sie in seinen Augen erblickte. Er konzentrierte sich so sehr auf dieses arme, hübsche Ding, dass kaum mehr Raum für andere Empfindungen in ihm war.
    Mary erhob sich. Ihre Anspannung ließ nicht mehr zu, dass sie sitzen blieb. Vorsichtig kam sie hinter dem Tisch hervor. Für einen Moment sah es aus, als zuckte ihre Hand nach dem Messer, doch sie griff nur die Lampe und wagte damit einen Schritt auf Alan zu. Noch immer trennten sie zwei Schritte.
    „Es tut mir leid, Mary“, sagte Alan leise. „Ich habe Ihre Frage ganz falsch beantwortet. Ich war einmal … Leather Apron, die Lederschürze. Heute bin ich es nicht mehr. Jack the Ripper war ich nie.“
    Die Frau betrachtete ihn eine volle Minute lang und kehrte dann wieder zum Tisch zurück.
    „Ich möchte Sie bitten, diesmal dem Schatten hinter Ihnen eine Frage zu stellen“, rief Alan. „Wer

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