Der Atem des Rippers (German Edition)
Maria hin zum Leben erweckt. Erwecke nun mich vom Sterbebett. Zeige mir einen Weg. Zeige mir einen Weg!
Dein Tag ist der 31. August. Es ist nicht mehr lange hin. Wie krank ich auch sein mag, ich werde dir ein würdiges Fest bereiten.
8
An dieser Stelle war der erste Zeitungsartikel eingeklebt worden. Walter Sickert erhob sich und setzte sich an den winzigen Tisch, wo die Lampe stand. Das goldbraune Papier wirkte wie ein Papyrus, den britische Forscher einem jener schrecklichen Pyramidengrabmäler entrissen hatten. Was in der trockenen Hitze der ägyptischen Wüste Jahrtausende überdauert hatte, würde im feuchten Tropenklima Burmas kein Jahrhundert überstehen.
Sorgfältig strich Sickert das gewellte Papier glatt. Wenn er es ganz nahe an die Petroleumlampe brachte, schälten sich die Formen der Buchstaben heraus. Es war kein Schwarz auf Weiß mehr, sondern ein Braun in Braun – das Schwarz der Lettern hatte eine ähnliche Farbe angenommen wie das Weiß des Hintergrundes, doch die Helligkeit unterschied sich. Nachdem die ersten Worte entziffert waren, ging es besser. Jeder Buchstabe schien eine andere, fremde Form zu haben, doch mit der Zeit erkannte man sie, und dieselben sechsundzwanzig Lettern wiederholten sich wieder und wieder.
Nach einer halben Stunde war Walter Sickert in der Lage, den Text nahezu flüssig zu lesen …
East London Observer
Samstag, 11. August 1888
Ein schrecklicher Mord.
Ein weiterer furchtbarer Mord ist geschehen – unter Umständen, die, wie man befürchten muss, so geheimnisvoll sind, dass wir kaum darauf hoffen dürfen, die rächende Hand des Gesetzes werde den oder die Übeltäter jemals zu fassen bekommen. Der geradezu geschlachtete Körper einer unbekannten Frau wurde auf der Treppe eines Wohnhauses in Whitechapel aufgefunden und wies nicht weniger als neununddreißig Verletzungen an unterschiedlichen Körperteilen auf, verursacht offenbar durch ein Messer; siebzehn Stiche erfolgten allein im Brustbereich. Die medizinischen Gutachten deuten darauf hin, dass das Messer das Herz erreichte.
Die mysteriösen Umstände des Verbrechens und die völlige Abwesenheit jeglicher Spur, die Identität des Opfers betreffend, machen die Arbeit der Polizei höchst schwierig und die Aussichten auf Erfolg gering.
Rätsel in Whitechapel.
Grauenhafte Gewalttat an einer Frau in George Yard.
39 Stiche.
Alle Details.
Etwa zehn Minuten vor fünf Uhr am Dienstagmorgen machte Uferarbeiter John Reeves eine schockierende Entdeckung, als er die Stufen des Gebäudes George Yard 37 hinabging – ein Block von Modellwohnungen, die von den ärmsten nur vorstellbaren Menschen bewohnt werden und unweit der Whitechapel Road liegen. Als er den Absatz der Steintreppe erreicht hatte, entdeckte er den in einer Blutlache liegenden Körper einer Frau. Reeves verständigte sofort Constabler T. Barret, der in der Nachbarschaft seinen Streifendienst verrichtete, und Dr. Keeling wurde gerufen und traf unverzüglich ein. Er untersuchte die Frau, stellte ihren Tod fest und erklärte, dass sie seiner Meinung nach brutal ermordet worden war, da sich Messerstiche in Brust, Magen und im Unterleib fanden. Der Körper gehörte einer offenbar 35 bis 40 Jahre alten Frau. Die Verstorbene trug einen dunkelgrünen Rock und einen braunen Unterrock, eine lange schwarze Jacke und eine schwarze Haube. Es wurde festgestellt, dass die Frau keinem der Bewohner des Hauses bekannt war, auf dessen Treppe sie gefunden wurde, und keinerlei Geräusche waren während der Nacht vernommen worden. Der Leib wurde in das Leichenschauhaus von Whitechapel gebracht, und Inspector Ellesdon von der Polizeiwache in der Commercial Street beauftragte Inspector Reid vom Criminal Investigation Department mit dem Fall.
Gerichtliche Untersuchung.
Das Interesse, das der Fall hervorrief, wurde durch die nie da gewesene Zahl von zwanzig herbeizitierten Geschworenen dokumentiert, die Mr. Geary als ihren Sprecher wählten. Sie saßen links von dem Leichenbeschauer, zu dessen Rechten wiederum Dr. Keeling und Inspektor Reid platzgenommen hatten, letzterer ein intelligent wirkender Mann in blauer Serge, der, ohne eine einzige Notiz zu machen, alle wichtigen Punkte in sich aufzusaugen schien. Vor dem Leichenbeschauer saß die Frau, die die Verstorbene als Martha Turner identifiziert hatte, mit einem Baby auf dem Arm und begleitet von einer anderen Frau – offenbar ihrer Mutter.
Mr. Collier, der Leichenbeschauer der Abteilung Südöstliches Middlesex, meinte
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