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Der Atem des Rippers (German Edition)

Der Atem des Rippers (German Edition)

Titel: Der Atem des Rippers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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anderes hing als die wahnsinnige Bestie, von der alle getuschelt hatten, als sie ein kleines Mädchen gewesen war. Das Ungeheuer, vor dem ihre Mutter sich gefürchtet hatte, wenn sie nachts im Eastend dem Gewerbe frönte, dem ihre Tochter eines Tages auch einmal nachgehen würde …
    „Fra-Frage Sechs“, begann sie erneut mit kaum hörbarer Stimme.

10
    Walter Sickerts Taschenuhr zeigte elf Uhr und vierzig Minuten. Mitternacht rückte heran, und er scheute sich weiterzulesen, denn der erste Mord des Alan Spareborne stand bevor, und er wusste nicht, ob er bereit dafür war.
    Schließlich gab er den Widerstand auf und fügte sich in die Macht, die dieses Tagebuch des Grauens auf ihn ausübte.
    25. August 1888
    Meine Krankheit ist vorüber. Kein Fieber mehr heute, nur eine tiefe Kraftlosigkeit, nachdem ich fast einen Monat im Bett verbrachte. Ich gehe umher, habe sogar einen Spaziergang durch die Stadt gewagt. Wieder habe ich die Rippe des Lazarus mitgenommen. Ganz sicher ist es dem Priester nicht verborgen geblieben, doch er scheint nun nachsichtiger mit mir zu sein, hat mich nicht einmal darauf angesprochen. Ob ihn meine lange Krankheit milde stimmt oder aber die Aussicht, mich in etwas mehr als zwei Monaten vielleicht für immer vom Hals zu haben, weiß ich nicht.
    Ich trieb mich fast den ganzen Nachmittag in Whitechapel herum, beobachtete einige der Straßenmädchen. Eine davon heißt Mary. Immer wieder bin ich an ihr vorübergegangen. Sie ist schlank, hat hochstehende Wangenknochen und graue Augen. Ich hörte mehrmals, wie sie beim Namen gerufen wurde. Manche nennen sie Polly, andere Mary.
    Mary. Maria.
    Lazarus’ Schwestern hießen Martha und Maria. Beide haben sie zu Jesus gesprochen.
    Vielleicht sprechen sie jetzt zu mir.
    Martha starb vor zwei Wochen, getötet von einem Dilettanten.
    In sechs Tagen ist der Tag des Heiligen Lazarus.
    Lazarus ist nicht der Beschützer der Mörder, aber der der Metzger und Totengräber.
    Ich bin weder das eine noch das andere.
    Meine Messer sind schärfer als die jedes Metzgers.
    Die Schrift änderte sich nun bei jedem Eintrag, teilweise sogar mitten im Text. War der vorige Abschnitt mit ungewöhnlich großen Lettern verfasst worden, als habe der Schreiber darin etwas besonders Wichtiges mitzuteilen versucht, fiel der folgende unvermittelt wieder zurück in die engen, gekippten Buchstaben der ersten Zeilen.
    28. August 1888
    Es geht mir den Umständen entsprechend gut. Ich habe einen gesunden Appetit und sehe, wie sich mein Gesicht im Spiegel wieder etwas rundet.
    Heute hat man mir den exakten Termin meiner Abreise verkündet. Der 9. November soll es sein; und man hat nicht versäumt, noch einmal zu betonen, dass nichts als mein Tod oder mein Austritt aus der Kirche den Antritt meiner Mission verhindern könne. Diesmal wies man mich ausdrücklich darauf hin, dass ich keine der Reliquien würde mitnehmen dürfen, da sie Eigentum der Kirche seien.
    Kein Wort darüber, wie es mit Reliquien steht, die nicht Eigentum der Kirche sind. Reliquien, die ich mir selbst besorge.
    Ich habe nicht nachgefragt.
    Drei Tage bis zum Tag des Heiligen Lazarus.
    Jeden Abend öffne ich den Koffer und wiege die chirurgischen Skalpelle in der Hand.
    Mary aus Whitechapel scheint es nicht gut zu gehen. Sie ist zweifellos Alkoholikerin und bedient einige Dutzend Kunden pro Tag, was sie erschöpft und verschlissen aussehen lässt. Doch sie behält den Kopf oben.
    Ich muss darauf achten, sie nicht zu oft und zu lange zu beobachten. Falls ihr etwas Vergleichbares zustößt, wie vor drei Wochen Martha Tabram, soll kein vertrottelter Polizist mich für ihren Mörder halten.
    Während die letzten Worte Sickert noch beschäftigten, fiel ihm auf, dass der nächste Eintrag nur aus einem kurzen Bibelzitat bestand. Unkommentiert und beinahe verloren stand es da.
    Und ein Kommentar war tatsächlich nicht nötig …
    30. August 1888
    1. Korinther 9, 11: Wenn wir euch zugute Geistliches säen, ist es dann zuviel, wenn wir Leibliches von euch ernten?
    Der anschließende Text unterschied sich von allen anderen, bisher gelesenen. Die Schrift deutete erstmals auf eine Hand hin, die ernsthaft zitterte. Die Hektik und Unregelmäßigkeit früherer Passagen war einer furchtbaren inneren Bewegung gewichen, die wie ein Seismograph die Nachbeben einer schrecklichen Katastrophe nachzeichnete.
    31. August 1888
    Ich habe kläglich versagt. Heiliger Lazarus, vergib mir! Der Geist in mir wollte etwas tun, wozu das Fleisch nicht fähig

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