Der Atem des Rippers (German Edition)
ich eine zweite Chance erhalte, darf ich ihn nicht wieder enttäuschen.
4. September 1888
In der Presse tauchte heute der Name „Leather Apron“ – „Lederschürze“ auf. Man glaubt, ein Metzger sei für Mary Ann Nichols Tod verantwortlich. Erstaunlich, wie eng man an der Wahrheit sein kann, ohne ihr wirklich nahe zu kommen.
5. September 1888
Bei dem Bazar in Spitalfields, den ich heute betreute, besorgte ich mir einen schwarzen Mantel und eine braune Mütze mit einem Schild vorn und hinten. Niemand hat es gesehen, denn ich tat es in dem Raum, in dem ich die Vorbereitungen für den Verkauf traf, und niemand war zu diesem Zeitpunkt bei mir. Ich trug einen Packen Kleidung zur Kirche zurück, wie ich es manchmal tue, um die Objekte, die niemand gekauft hat, dort an die Bedürftigen zu verteilen. Die zwei genannten Kleidungsstücke jedoch behielt ich für mich.
Ich habe eine Ahnung, als ob ich sie bald brauchen würde.
7. September 1888
Es ist schwer, weiterzuleben, als wäre nichts geschehen. London ist in Aufregung. Menschen strömen in die Kirchen – sogar in die katholischen – und suchen nach Trost und Erklärungen. Ich tue mein Bestes, um sie zu trösten, doch erklären kann ich ihnen nichts. Man nennt das East End einen Schandfleck der britischen Metropole – nicht zum ersten Mal, aber nachdrücklicher als zuvor.
Je mehr ich über diesen sogenannten Mord lese, desto weniger habe ich das Gefühl, etwas damit zu tun zu haben. Das Geschehene wird in einer Weise dargestellt, die nichts mit den tatsächlichen Umständen und Hintergründen zu tun hat. Kein einziger dieser protestantischen Schreiberlinge erwähnt den Namenstag des Heiligen Lazarus; sie suchen einen Frauenhasser oder Prostituiertenmörder. Mit diesen Ansätzen werden sie mir nie auf die Spur kommen, und dafür danke ich dem Herrn und seinen Heiligen jeden Tag.
Heute hat man mir Fotografien aus Burma gezeigt. Es ist ein hässliches, unordentliches Land. Die Menschen leben in Hütten, essen mit den Händen, heiraten in bunten Gewändern und beten sitzende Buddhas aus Gold und Messing an. Die Missionare leben dort wie Menschen, die nicht dorthin gehören – es muss sein, als betrete man den Traum eines anderen. Ich habe widerwillig einen langen Bericht gelesen und fühlte das Fieber zurückkehren, noch ehe ich damit fertig war.
Morgen ist der achte September, Mariä Geburt, ein mehr als besonderer Tag – der Tag der heiligen Mutter Maria, die unseren Herr Jesus unbefleckt empfing. Seit dem Tag des Heiligen Antonius vor sieben Jahren weiß ich, welche Macht in einem Datum steckt. Es ist eine exakte Wissenschaft wie die des menschlichen Körpers. Heute spüre ich mehr als je zuvor, dass ich einen starken Talisman brauche, wenn ich in dieser Stadt Mandalay bestehen will. Eine Reliquie, die nicht Eigentum der Kirche ist, muss aus dem Eigentum eines Menschen stammen, der nicht der Kirche gehört. Im ersten Korintherbrief aber steht geschrieben: „Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes in euch ist, den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst angehört?“ Demnach ist der Körper nicht das Eigentum des Menschen. Und demnach ist derjenige kein Dieb, der etwas aus diesem Körper stiehlt, außer er stiehlt es von Gott.
Eine Unruhe stieg erneut in Walter Sickert auf, und es wurde ihm so flau im Magen, dass er glaubte, sich übergeben zu müssen. Vielleicht erinnerte er sich unbewusst an ein Datum, von dem er sich einbildete, er hätte es vergessen. Das Datum von Jack the Rippers zweitem Mord. Soweit er wusste, war nie jemandem aufgefallen, dass es sich um Mariä Geburt handelte.
8. September 1888
Es ist vollbracht. Jetzt, zwei Stunden danach, bin ich noch voller Erregung und Unruhe. Ich kann mich nicht dazu überwinden, die Einzelheiten des Geschehens niederzuschreiben, denn die englische Sprache ist nicht dafür geschaffen worden, solche schrecklichen Minuten zu beschreiben. Schilderte ich sie in der nüchternen Sprache meiner Wissenschaft, fehlte es ihnen an der inneren Bewegung, und stellte ich sie mit den Versen eines Poeten oder Theologen dar, könnte der Eindruck entstehen, ich hätte irgendeine verquere Form von Freude oder Spaß dabei empfunden.
Nichts daran war amüsant oder erquicklich. Nichts an seiner Arbeit bringt den Metzger oder den Totengräber zum Lachen. Und doch tut er, was er tun muss.
Die Frau und ihre Kleidung zu beschreiben, ist müßig. Morgen werden es die Zeitungen ausführlicher
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