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Der Atem des Rippers (German Edition)

Der Atem des Rippers (German Edition)

Titel: Der Atem des Rippers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Annie Chapman. Die Rufe nach Rache, die am Samstagnachmittag aus einigen tausend Kehlen klangen, waren keine leeren Drohungen. Londons Bevölkerung war nicht in der Stimmung für hohle Phrasen.
    Der Inhaber einer Wachsfigurenwerkstatt in der Whitechapel-Road machte ein kleines Vermögen damit, drei schrecklich entstellte Figuren, die bereits bei früheren Anlässen ihren Dienst verrichtet hatten, mit einigen Streifen roter Farbe zu verzieren und Hunderte leichtgläubiger Menschen um ihre Pennies zu erleichtern, indem er ihnen die „Opfer von George Yard, Buck’s Row und ’Anbury Street“ vorführte. Sein Glück war allerdings von kurzer Dauer, denn ein Polizeiinspektor mit Sinn für Pietät ließ die Figuren herabnehmen und hörte sich die ungebildete Hasstirade gegen die Polizei im Allgemeinen und gegen sich im Besonderen geduldig an.
    Am Samstag nahmen die Menschenmassen, die sich in einigen Straßen des Londoner Ostens versammelt hatten, eine sehr bedrohliche Haltung gegenüber der hebräischen Population des Distrikts an. Es war wiederholt behauptet worden, dass kein Engländer ein solch grauenvolles Verbrechen wie jenes in der Hanbury Street begangen haben konnte, und dass es von einem Juden verübt worden sein musste – und sofort ging der Mob dazu über, all jene unglücklichen Hebräer zu bedrohen und zu misshandeln, die in den Straßen zu finden waren. Glücklicherweise verhinderte die Gegenwart einer großen Anzahl Polizisten schließlich, dass es zu einem Aufruhr kam. „Wenn die von Panik ergriffenen Leute, die ‚Nieder mit den Juden’ rufen“ – so ein Leserbriefschreiber – „da sie sich einbilden, ein Jude hätte die grauenhaften und ekelerregenden Verbrechen begangen, die Whitechapel zu einem gefürchteten Ort haben werden lassen, auch nur irgendetwas von der jüdischen Abscheu vor dem Blut wüssten, würden sie zögern, ehe sie einem friedliebenden und gesetzestreuen Volk mit Vernichtung drohen. Seit der Rückkehr der Juden nach England im Jahr 1649 wurden nur zwei Juden wegen Mordes gehängt, Marks und Lipski, und wenn man sich die Herkunft vieler der armen Burschen ins Gedächtnis ruft, die aus der Verfolgung in fremden Ländern hierher fliehen, ist das eine äußerst bemerkenswerte Statistik. Dass die Bestie, die Londons Osten mit Schrecken erfüllt, kein Jude ist, steht für mich fest. Etwas allzu Schreckliches, Unnatürliches, Unjüdisches liegt in dieser Mordserie, als dass ein Israeli der Mörder sein könnte. Nie gab es einen Juden, der sich zu solch verabscheuenswürdigen Morden herablassen würde, wie sie bekannt wurden. Seine Natur sträubt sich gegen die Blutschuld, und die gesamten Umstände der Schlachtereien von Whitechapel widersprechen dem jüdischen Charakter.“
    Die Theorien, die die Polizei aufgestellt hat, sind folgende: 1. Dass der Mörder unweit von Hanbury Street wohnt oder logiert. 2. Dass, da die Opfer nicht ausgeraubt wurden, der Mörder zur Mittel- oder sogar zur Oberschicht gehört. 3. Dass die furchtbaren Verstümmelungen der Körper, die diesen ohne erkennbaren Grund zugefügt wurden, darauf hindeuten, dass der Mörder entweder ein Mann mit wilden und heftigen Gefühlsausbrüchen ist, oder ein Irrer, der wahrscheinlich unter einer Art Epilepsie leidet. 4. Dass die saubere Weise, in der die Wunden zugefügt wurden, und das Wissen, welches durch das Herausnehmen und Auslegen der Innereien und des Herzens bewiesen wurde, nicht auf einen Metzger als Mörder hindeuten, denn die Wunden hätten dann anders aussehen müssen, sondern auf jemanden, der Anatomie studiert hat und höchstwahrscheinlich im Umgang mit dem Seziermesser vertraut ist. 5. Dass, falls der Mann geisteskrank ist, er eine spezielle Abscheu gegen die Klasse der Benachteiligten hegt, unter denen er seine Opfer findet. Da die Polizeiarbeit auf dem Hintergrund dieses Profils vorangetrieben wird, ist man zuversichtlich, den Mann endlich dingfest machen zu können.

13
    Die beiden Artikel aus dem East London Observer hatten Walter Sickert eine Weile beschäftigt, und mittlerweile bewegten sich die Zeiger seiner Taschenuhr auf zwei Uhr zu. Dem Maler fiel es schwer, sich auch nur für eine Minute von der Lektüre zu lösen, und doch tat er es. Er vergrub das Tagebuch unter der Matratze und suchte die Toilette auf, die sich auf dem Flur befand. Als er zurückkam und das Buch an seinem Platz vorfand, wusste er nicht, ob er erleichtert sein sollte. Die Tortur des Lesens ging weiter, und während er sich

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