Der Atem des Rippers (German Edition)
notierte sich die Uhrzeiten, bedankte sich, erhob sich und verließ uns überraschend schnell, ohne noch einen seiner taxierenden Blicke in die Runde zu werfen. Er wirkte wie ein Mann, dem für seine Aufgaben viel zu wenig Zeit zur Verfügung steht und der kein Interesse daran hat, dies zu verbergen.
Lange saß ich neben dem Priester. Ich brauchte Zeit, um das Geschehene zu verarbeiten und zu entscheiden, wie ich weiter verfahren sollte. Ich hatte das Gefühl, dass die Heiligen mich ein weiteres Mal gerettet hatten und mir soeben eines der vielen Wunder meines Lebens widerfahren war, und doch fühlte ich mich einsam und alleingelassen mit meinen Taten und meinem Leben. Ich war in Obhut, aber ohne Führung. Was immer ich auch tat, mir schien nichts zuzustoßen, doch verriet Gott mir nicht, ob es ihm gefiel und was er in Zukunft von mir erwartete.
„Sie hätten sich nicht mit einer Lüge belasten sollen, Pater“, sagte ich vorsichtig.
Pater Ouston sah mich nicht an.
„Verlassen Sie St. Patrick’s“, flüsterte er.
„Am neunten November, Pater“, erwiderte ich kühl. „Am neunten November werde ich abreisen, wie es von Anfang an Ihr Wunsch war.“
„Verlassen Sie diese Kirche sofort!“ Er flüsterte und schrie doch zugleich. Es klang, als spreche eine überhitzte Dampfmaschine aus ihm, die in wenigen Augenblicken explodieren würde. „Ich mache mich zum Schuldigen vor jedem weltlichen und himmlischen Gericht, um Ihren armseligen Kopf zu retten, Spareborne, und Sie verspotten mich dafür! Gehen Sie mir aus den Augen. Außer dem Teufel in der Hölle kann niemand mehr Ihren Anblick ertragen! Verschwinden Sie!“
Während ich dies niederschreibe, versuche ich zu ergründen, wie ernst ihm seine Worte waren und was ich zu tun habe.
Während der folgenden Einträge wechselte die Schrift häufig ihren Charakter; gegen Ende des jeweiligen Abschnitts verwandelte sie sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit in hastiges Gekritzel, und hätten die davor liegenden Seiten Sickert nicht mit den Eigenarten von Sparebornes Schrift vertraut gemacht, wäre ihm so manche Passage verschlossen geblieben.
17. September 1888
Pater Ouston hat einen Schlüssel für meine Tür aufgetrieben. Der Teufel muss ihn ihm zugesteckt haben, denn als ich ihn in den vergangenen Jahren mehrmals um einen bat, um meine Kammer abzusperren, behauptete er, ihn nicht finden zu können.
Er schließt mich jetzt Tag und Nacht ein, behandelt mich wie einen Gefangenen. Er scheint die Tage zu zählen wie ich. Doch das ist besser, als mich auf die Straße zu setzen.
„Pater!“, habe ich gesagt. „Pater, wenn Sie mich vor die Tür setzen, werde ich es vielleicht wieder tun. Solange Sie mich hier unter ständiger Beobachtung halten, können Sie sicher sein, dass ich nichts unternehme, was Sie und die anderen nicht verstehen würden.“
Er weiß, dass ich recht habe. Nur, wenn er mich des Nachts in meiner Kammer einschließt, findet er einen Hauch von Schlaf. Er wird sichtbar älter, jeden Tag. Kein Zweifel – die Sache nimmt ihn mit …
20. September 1888
Die Tage, in denen ich mich stark fühlte, sind vorüber. Mein Leben ist zu einer Qual geworden. Jeden Augenblick muss ich damit rechnen, das Rasseln der Handschellen vor meiner Tür zu vernehmen und den Weg zum Galgen anzutreten. Was ich getan habe, beginnt mir selbst ungeheuerlich zu erscheinen. Ouston lässt mir nun – entgegen seiner früheren Meinung – alle Zeitungen zukommen, in denen der Tod der beiden Frauen kommentiert wird, und dies sind viele in diesen Tagen. Die Journalisten übertreffen sich gegenseitig in ihren Hetzreden, und es fällt mir immer schwerer, das Bild des Satans in Menschengestalt, das sie malen, von dem Bild fernzuhalten, das ich von mir selbst habe.
Ich klammere mich an die Gewissheit, dass ich keinerlei Lust oder Genuss empfand, als ich meine Aufgabe verrichtete. Keine Spur von Rachedurst oder pervertierter Fleischeslust war in mir gewesen. Es bereitete mir tiefe Pein, sie leiden und sterben zu sehen, weshalb ich ihren Schmerz so kurz und gering wie möglich zu halten versuchte, ehe ich mich an dem bediente, was ihnen ohnehin nicht gehört.
Jeden Tag bete ich nun für ihre Seelen. Ich kasteie mich für das, was ich ihnen angetan habe, indem ich auf dem kalten Steinfußboden schlafe und keine feste Nahrung zu mir nehme. Ich wünsche mir das Fieber zurück, mit dem dieser Albtraum begonnen hat. Vielleicht kann mich ein zweites Fieber wieder daraus befreien,
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