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Der Atem des Rippers (German Edition)

Der Atem des Rippers (German Edition)

Titel: Der Atem des Rippers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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durch die Seiten arbeitete, fühlte er sich, als würde er die alte Zeit mit ihrem furchtbaren Geschehen ein zweites Mal abspulen und trage eine erhebliche Mitschuld an allem, was geschah ...
    16. September 1888
    Die Polizei war hier! Ein Sergeant hat mich und Ouston im Zusammenhang mit den Taten von Leather Apron befragt. Offenbar will man sicherstellen, dass keine mögliche Beichte eines Mörders ungehört in den Wänden von St. Patrick’s Kirche verhallt. Wir wurden gemeinsam vernommen, was mir beweist, dass wir nicht als Verdächtige eingestuft wurden. Ouston wies den Beamten auf das Beichtgeheimnis hin. Es gab von Anfang an keinen Hinweis darauf, dass er die Polizei auf mich aufmerksam gemacht hatte. Der Besuch muss eine Routineangelegenheit gewesen sein.
    Der Name des Sergeants war Keelie. Er erinnerte mich an jenen Dr. Keeling, der den Tod von Martha Tabram feststellte, zumindest, was den Namen anging. Ob der Doktor dieselbe untersetzte Statur und dieselben illusionslosen, ja, nahezu verschlagenen Augen besaß, ist mir freilich unbekannt. Ich kann sagen, dass ich den Sergeant nicht mochte, vielleicht, weil ich vom ersten Augenblick an sah, dass sein Geist zu Großem fähig war, wenn er nur seine Trägheit abzuschütteln vermochte. Zu meinem Glück gelang ihm dies an jenem Tag nicht. Ich hatte den Eindruck, er habe schon ein Dutzend oder mehr Gespräche in Folge geführt und glaube nicht mehr daran, eine Spur zu finden.
    Ich brauche nicht zu erwähnen, wie aufreibend die Situation für mich war. Ich, dem die Zeitungen den Namen Leather Apron verliehen hatten, saß zusammen mit einem Vertreter von Scotland Yard und mit dem einzigen Menschen, der um meine Rolle wusste. Das jüngste Gericht vor Gott, dem Richter, konnte einen Menschen kaum mehr verunsichern. Ich kämpfte gegen den Orkan, der in mir tobte, bis es mir beinahe schwarz vor Augen wurde.
    „Denken Sie nicht, Pater, dass es die Pflicht eines Christen ist, die Gesellschaft vor einem Ungeheuer wie diesem zu schützen?“, fragte Sergeant Keelie, der die bittere Medizin des Beichtgeheimnisses noch immer nicht geschluckt zu haben schien.
    „Ein Christ“, begann der Priester sehr langsam und akzentuiert, „hat eine Menge Pflichten. Der Schutz der Gesellschaft gehört nicht explizit dazu.“ Doch als der Sergeant tief einatmete und zu einer gepfefferten Erwiderung ansetzte, fügte er beschwichtigend hinzu: „Seien Sie aber versichert, dass ich als Bürger Englands, der ich ja ebenso bin, ein Brechen dieser allzu starren Regel unbedingt in Erwägung ziehen würde, käme ich zu dem Schluss, nur dadurch weitere Untaten verhindern zu können.“
    Keelie sah zunächst aus, als bereite er sich auf ein langes Nachdenken und Interpretieren dieser Äußerung vor, doch offenbar wurde ihm sein eigener Gedankengang zu kompliziert und sperrig, und er verwarf ihn und nickte wie versöhnt.
    „Von einem Ungeheuer“, keuchte ich, ohne dass mich jemand um meine Meinung gefragt hätte, „könnte man nur sprechen, wenn der … Betreffende ohne die Leitung einer höheren Macht gehandelt hätte.“ Es brach einfach so aus mir heraus. Mir war bewusst, dass ich im Begriff war, mich um Kopf und Kragen zu reden, und doch vermochte ich mich nicht zu bezähmen.
    Der Sergeant wirkte verwirrt und alarmiert. Selbst in meiner Erregung beobachtete ich aufmerksam, wie die Falten auf seiner Stirn tiefer wurden.
    „Satan“, warf Pater Ouston unvermittelt ein, „vermag einen Sünder so zu entstellen, dass seine Mutter ihn nicht wiedererkennt, aber er vermag doch aus ihm kein Ungeheuer zu machen. Ein Sünder bleibt ein Sünder, und unser Vater im Himmel erkennt ihn als einen solchen.“
    Ich ließ den Kopf sinken. Für diese Worte begann ich ihn zu hassen, und doch hatte er mir damit vermutlich das Leben gerettet.
    Keelie fragte: „Dekan Alan Spareborne, wo waren Sie am frühen Morgen des achten September gegen fünf Uhr?“ Er wirkte angespannt, wie vor einer Prüfung.
    „Hier in der Kirche beim Morgengebet.“ Die Lüge kam ohne ein Zögern über meine Lippen, als hätte der heilige Lazarus sie schon dort bereitgelegt, bevor meine Ohren die Frage vernahmen.
    Der Mann vom Yard warf dem Priester zu meiner Rechten einen Blick zu.
    „Das stimmt, Sergeant“, erwiderte Pater Ouston nach einer kurzen Pause. „Der Dekan war hier, in St. Patrick’s. Wir beteten gemeinsam vor dem Altar, von etwa … Viertel vor Fünf bis halb Sechs.“
    „Sie sind ganz sicher?“
    Ouston nickte.
    Keelie

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