Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Kugeln auch Feuerkugeln oder mit Ketten aneinandergeschmiedete Kugeln ausspien, beharkten, bis der Feind zu einer manövrierunfähigen Hulk zusammengeschossen, in die Flucht geschlagen oder aufgebracht worden war.
Kampf gegen Piraterie und Sklavenhandel sowie Seekriege – all das verband sich miteinander, so dass auf den Meeren hektische militärische Aktivität herrschte. Die beiden ersten Erscheinungen wurden ungewollt zu Paten der dritten, und bei den großen Seeschlachten späterer Zeit – der Schlacht von Trafalgar und der im Skagerrak beispielsweise, ja bis zu einem gewissen Grad sogar schon bei der Vernichtung der Spanischen Armada durch die Briten – machten sich, hinsichtlich der Art und Weise, in der sie geführt wurden, und der Taktiken, die zur Anwendung gelangten, die Lektionen bezahlt, die man bei den Bemühungen, die Meere von Piraten und skrupellosen Menschenhändlern zu säubern, gelernt hatte.
4. Menschenhaie und andere Meeresraubtiere
P iraten oder, um die gesetzliche Definition zu zitieren, »solche, die ein Schiff auf hoher See dem Besitz oder der Kontrolle derer entziehen, die zu beidem berechtigt sind«, haben auf den Meeren Verwüstungen angerichtet, so lange die Menschheit sie schon befährt. Lange genug, um in die Folklore eingegangen zu sein. Die Flagge mit dem Totenkopf, die Augenklappe, der auf der Schulter hockende Papagei, die entstellende Gesichtsnarbe, vielleicht noch ein Holzbein oder ein Haken anstelle einer Hand – und dazu passende grausame Bestrafungen, wie jemanden »über die Planke springen« zu lassen –, das alles zeichnet die klassische, fiktive Piratengestalt aus; Piraten werden als kapitale Burschen porträtiert, die gerne einen zur Brust nehmen. Wenn man jedoch weiß, dass sie noch viel häufiger als zur Flasche zu einer »Bestrafung« griffen, wie den Unterleib eines Opfers aufzuschlitzen, seine Därme rauszuziehen und am Mast festzunageln und den Unglücklichen dann dazu zu zwingen, rückwärts über das Deck zu tanzen, so dass er seine Därme wie eine sich abwickelnde Wäscheleine hinter sich herzog – dann beginnt die ganze Romantik sich rasch und gründlich zu verflüchtigen.
Von einem Freibeuterschiff angegriffen zu werden war eine furchtbare Erfahrung. Ein solcher Überfall lief nach einer gewissen Routine ab: Von den stetig wehenden Westwinden vorangetrieben, stampfte das Frachtschiff mit Schätzen oder Handelswaren vollgeladen schwerfällig durch die Wogen in Richtung Osten, bis plötzlich Segel am Horizont auftauchten und eine kleine Schaluppe sich geschwind näherte. Solange sie noch weiter entfernt war, führte sie vielleicht die Flagge eines befreundeten Landes; wenn sie bis auf wenige Längen herangekommen war oder sich in Rufweite befand, stieg statt dieser eine einfache schwarze Flagge oder eine, auf der zusätzlich ein Totenschädel und gekreuzte Knochen (oder Entermesser) prangten, am Mast hoch: Das war der »Jolly Roger«, die weithin bekannte Korsarenflagge. Die Schaluppe ging dann längsseits, nachdem ihre Besatzung zur Warnung ein paar Kugeln quer vor den Bug des Frachtschiffs abgefeuert oder auch seine Segel mit ein paar Schüssen zerfetzt hatte. Sie hatte dazu erst abrupt über Stag gehen müssen, so dass ihre eigenen Segel heftig an den Rahen geflattert hatten. Das Opfer, das durch den Verlust eines Teils seiner Segel schon an Vortrieb eingebüßt hatte, musste dann ganz stoppen. Enterhaken kamen an sein Deck geflogen, die an ihnen befestigten Leinen wurden straffgezogen, und sobald die Schanzkleider der beiden Segler sich berührten, ergoss sich eine Horde von wild blickenden Burschen über die Reling.
Sie schwangen Entermesser, Säbel und leichte Äxte, mit denen sie auf jeden einhieben, der die geringste Gegenwehr leistete. Einige der Angreifer trieben dann die Besatzung zusammen, fingen an, die Männer zu befragen und mit Fausthieben und Messerstichen zu traktieren. Allzu oft schlitzten die Tobenden ihnen auch den Leib auf oder erwürgten sie. Bei einem berühmt gewordenen Fall nagelten sie die Füße eines Matrosen auf den Decksplanken fest, schlugen mit Rattangerten auf ihn ein und hackten ihm dann die Glieder ab, bevor sie den blutigen Rumpf den Haien zum Fraß vorwarfen. Andere durchstöberten die Laderäume des Schiffs und die Kajüten auf der Suche nach allem, was von Wert oder Nutzen war. Möglicherweise war Gold an Bord, mit Sicherheit fanden sie Kanonen und Schießpulver, vielleicht auch ein paar gut ausgebildete
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