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Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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vor einem Komitee des britischen Unterhauses abgab. An Bord der Brigg mit Heimathafen Liverpool befanden sich neunzig Sklaven, die man aus einem Fort in Gambia geholt hatte und die für South Carolina bestimmt waren.
    Hier das Protokoll der Anhörung Parkers:
    »Welches waren die Umstände, die zur Misshandlung dieses Kindes führten?
    Das Kind war verstockt und wollte nicht essen […], der Kapitän nahm es hoch und schlug es mit der neunschwänzigen Katze .
    Ist Ihnen etwas anderes in Bezug auf dieses Kind in Erinnerung?
    Ja, es hatte geschwollene Füße. Der Kapitän befahl dem Koch, etwas Wasser zu erhitzen, weil er sehen wollte, ob er damit etwas gegen die Schwellung ausrichten könne, und der Koch machte das. Der Kapitän gab dann den Befehl, die Füße des Kindes ins Wasser zu stecken, woraufhin der Koch einen Finger reinsteckte und sagte: ›Sir, es ist zu heiß.‹ Der Kapitän sagte: ›Ach, verdammt. Das macht nichts, steck seine Füße rein,‹ Und dabei lösten sich die Haut und die Nägel. Er holte daraufhin etwas Öl und Tücher und wickelte die Füße ein, damit sie nicht mehr so brannten, und ich selbst badete die Füße in Öl und umwickelte sie und legte das Kind zur Essenszeit am Nachmittag aufs Quarterdeck. Ich brachte ihm etwas zu essen, doch es wollte es nicht nehmen. Der Kapitän ergriff das Kind erneut und peitschte es aus und sagte: ›Verdammt, ich werde dich schon zum Essen bringen.‹ Und so machte er es vier, fünf Tage lang. Wenn das Kind zur Essenszeit nichts zu sich nehmen wollte, peitschte er es, und er band ihm einen Klotz aus Mangobaumholz, vierzig, fünfzig Zentimeter lang, mit einem Strick um den Hals. Das letzte Mal, als er das Kind hochgerissen und geprügelt hatte, ließ er es anschließend aufs Deck fallen und sagte: ›Verdammt noch mal, ich bring dich zum Essen, oder ich werd dich umbringen‹, und eine Dreiviertelstunde später war das Kind tot. Er ließ nicht zu, dass die Leute auf dem Quarterdeck das Kind über Bord warfen, sondern ließ dessen Mutter herbeikommen, damit sie es tat. Sie weigerte sich, und ich glaube, er hat sie auch gepeitscht; in jedem Fall hat er sie, da bin ich sicher, in irgendeiner Weise geschlagen, weil sie es nicht tun wollte. Am Ende brachte er sie doch dazu, es hochzuheben, und sie nahm es in die Arme und ging mit ihm zur Reling, wobei sie den Kopf zur Seite wandte, weil sie es nicht mit ansehen wollte, wie sie es losließ, und sie ließ es von Bord fallen. Sie schien sehr traurig zu sein und weinte mehrere Stunden lang.«
    Ob dieser Parker die Wahrheit – oder die ganze Wahrheit – erzählte, werden wir niemals wissen. Sicher ist nur, dass man diese Geschichte in einem Anhörungsprotokoll des britischen Parlaments aus dem Jahr 1790 33 findet und dass das Kind, um das es ging, laut Parker erschütternd jung war, fast noch ein Kleinkind.
    An die fünfzig Tage nach der Abfahrt von der Küste Westafrikas kam die amerikanische Küste in Sicht, und die zweite Etappe auf der Dreiecksroute war damit bewältigt. Für die meisten Sklaven, die aufgrund dessen, was die Franzosen le trafic Négrier nannten, nach Amerika gelangten, waren schon Kaufverträge abgeschlossen worden, sie wurden gewissermaßen auf Bestellung geliefert. Der Kapitän hatte Befehl, sie zu einem Eingewöhnungslager zu bringen, das zu einer der Verteilungsstellen gehörte, die man auf Inseln wie Jamaika oder Barbados eingerichtet hatte, oder aber die menschliche Fracht zu einem der Sklavenhäfen an der Küste des Festlands wie Norfolk oder Charleston zu transportieren. Vielleicht hatte der Kommandant Glück, und der amerikanische Zwischenhändler oder Agent leerte ihm nicht nur die Laderäume auf einen Schlag, indem er die Sklaven en gros aufkaufte, um sie dann später einzeln mit Gewinn auf einem Markt wieder zu veräußern, sondern besorgte ihm auch noch für die Rückfahrt in die Heimat eine Ladung anderer Art. Unter Umständen wurde auch an Bord des Schiffs oder auf dem Anlegekai eine Auktion abgehalten.
    Vielleicht mussten die Sklaven zum Abschluss der Middle Passage auch noch eine letzte Schmach über sich ergehen lassen – einen sogenannten slave scramble . Das bedeutete, dass man den auf dem Kai wartenden Händlern mitgeteilt hatte, dass jeder der Afrikaner an Bord zu einem Einheitspreis abgegeben werden würde. Auf ein bestimmtes Signal hin, gewöhnlich einen Trommelschlag, stürmten sie das Schiff und stürzten sich wie eine wild gewordene Kundenschar beim Schlussverkauf

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