Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
auf die verschreckten Männer und Frauen, die man – immer noch in Ketten – auf das Quarterdeck getrieben hatte, um die besten »Stücke« für sich zu ergattern. Familien wurden unvermeidlich auseinandergerissen, weil ein Händler den Mann, ein anderer dessen Frau haben wollte und wieder andere an den Kindern interessiert waren.
Nicht lange danach legte das Schiff wieder ab; seine Decks hatte man gründlich mit Essig und Lauge geschrubbt, die Plattformen, auf denen in den Wochen davor Menschen mit schwarzer Haut dicht an dicht gelegen hatte, waren jetzt vollgepackt mit Tabakballen, Pelzen oder Manufakturwaren aus den Kolonien. Einige Wochen später sichtete man backbord voraus die Landspitze Head of Kinsale und ungefähr einen Tag danach die Leuchttürme am Mersey oder am Avon. Und dann war die lange Fahrt endlich zu Ende. Die Seeleute waren wieder mit ihren Frauen und Kindern vereint; sie spazierten wieder Straßen entlang und gingen zum Gottesdienst in die Kirche, und die Erinnerung an den Transport der menschlichen Fracht – der einige in einen moralischen Zwiespalt stürzte, für andere einfach nur lästige Routine war – konnte irgendwie verdrängt werden, bis die nächste Fahrt anstand.
Sklavenhändler hielten an ihrem Gewerbe noch viele Jahre voller Schläue und Entschlossenheit fest – vor allem indem sie Anteilsscheine an portugiesischen Sklavenschiffen kauften; denn Lissabon erklärte die Sklaverei in den afrikanischen Kolonien des Landes bis 1869 für legal und fuhr fort, Brasilien mit Sklaven aus Angola zu versorgen, bis dieser Handel von dem südamerikanischen Staat 1831 verboten wurde. Doch im Lauf der Jahre gewann die Westafrikaschwadron der Royal Navy die Oberhand, und obwohl der Dienst bei dieser riesigen Flotte mit Heimatstützpunkt Portsmouth äußerst unbeliebt war – hauptsächlich wegen der heimtückischen tropischen Krankheiten, die so manchen Seemann befielen und umbrachten –, hatten um die Mitte des 19. Jahrhunderts herum die Männer dieser sogenannten Präventiveinheit an die sechzehnhundert Sklavenschiffe aufgebracht und hundertfünfzigtausend Sklaven befreit. Die letzten Sklavenschiffe, die den Ozean überquerten, die Wanderer und die Clotilde , waren in Amerika registriert; sie schafften es 1858 respektive 1859, durch die diversen Sperrkordons hindurchzuschlüpfen. Der letzte überlebende Sklave, der mit dem letzten Sklavenschiff angekommen war, starb 1935 in einem Vorort von Mobile, Alabama. Und mit dem Tod dieses würdigen vierundneunzig Jahre alten Herrn aus Benin namens Cudjoe Lewis schwand das letzte Verbindungsglied zum transatlantischen Sklavenhandel dahin, mit dem zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Franzosen in Florida und die Engländer in Virginia begonnen hatten und der mehr als vierhundert Jahre lang betrieben worden war.
Diese zeitgenössische schematische Darstellung zeigt, wie eng zusammengepfercht die gefangenen Schwarzafrikaner auf dem Unterdeck der Sklavenschiffe und den eigens eingezogenen hölzernen Zwischenböden lagen. Diese »Frachträume« waren vor allem bei warmem Wetter Brutstätten für Krankheiten verschiedenster Art.
6. Die Regeln bilden sich aus
D er Krieg gegen die Sklavenhändler und die Bekämpfung der Piraten wirkten sich in der Tat auf die Taktiken der Seekriegführung aus, indem sie berufsmäßige Seeleute im Umgang mit auf Schiffen mitgeführten Kanonen schulten, die technisch immer perfekter und todbringender wurden. Außerdem hatte beides auch einen Einfluss darauf, wo auf dem Meer Gefechte mit solchen Waffen ausgetragen wurden.
Alle frühen Kämpfe oder Schlachten auf See waren traditionellerweise in Sichtweite des Landes ausgefochten worden oder zumindest in der Nähe der Küste. Zum Teil hatte das daran gelegen, dass es den Männern, die die Schiffe kommandierten, schwergefallen wäre, zu ermitteln, wo genau sie sich befanden, sobald sie sich auf die offene See hinausbegeben hätten, wo es keine konkreten Orientierungspunkte mehr gab. Doch als die Techniken zur Bestimmung der Breite und, was entscheidend war, der Länge verfeinert wurden, waren die Kommandanten in der Lage, ihre Position mehr oder weniger präzise zu bestimmen. Und dann wurden sie auch in die Lage versetzt, den Standort des Feindes auf dem Meer zu ermitteln und ihn dort anzugreifen. Nachdem das eingetreten war, begann der Ausdruck »command of the sea« (Herrschaft über die See) eine Realität zu bezeichnen: In frühen Zeiten hatten Kriegsflotten, die den
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