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Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Funkspruch von der Mannschaft der Entalik: Sie hätten sich drei Tage und Nächte lang durch das Packeis hindurchgekämpft und seien jetzt nur noch ungefähr eine Meile von uns entfernt; aber näher könnten sie wahrscheinlich nicht herankommen. Solange des Eis sich nicht zu stark bewege, könnten sie vielleicht einen Tag lang dort ausharren, wo sie jetzt seien, dann würden sie sich aber auf den Rückweg machen müssen. Der Winter begann Einzug zu halten. In jenen Regionen knapp oberhalb des siebzigsten Breitengrads ging die Herbstsonne jeden Tag ein paar Minuten früher unter, und die Temperaturen begannen in der Nacht stark zu fallen. Sogar tagsüber war es schon kalt genug für Schneegestöber.
    Uns blieb eigentlich kaum eine Wahl. Wir hatten schon den letzten Eisbrecher der Saison, der zweimal jährlich von einer fünfzig Kilometer von uns entfernten kleinen Siedlung am Nordufer des Fjords aus in See stach und uns nach Dänemark zurückgebracht hätte, verpasst. Wenn es uns jetzt nicht gelänge, uns in dieser Siedlung in Sicherheit zu bringen, würden wir wirklich in eine schlimme Lage geraten. Es würde immer kälter werden, und bald würde auch vollkommene Dunkelheit herrschen. Uns drohte der Hungertod.
    Wenn wir noch eine Chance haben wollten, wieder nach Hause zu gelangen, mussten wir versuchen, uns zu Fuß zu dem Boot durchzuschlagen, also über die sich unablässig verschiebenden Eisschollen über den Fjord zu wandern, in der Hoffnung, am Rand der zugefrorenen Fläche auf die Entalik zu stoßen. Wir müssten unverzüglich aufbrechen, weil die Männer in dem Boot angesichts der Gefahr, für den ganzen Winter an ihrem Liegeplatz festgehalten zu werden, nicht ewig warten, sondern wenden und die Rückfahrt in den Hafen antreten würden.
    Also brachen wir unsere Zelte ab, sammelten die wichtigsten Stücke unserer Ausrüstung zusammen und packten sie uns auf den Rücken. Dann banden wir uns zu unserer Sicherheit mit einem Seil aneinander fest, und mit Krampen unter den Stiefelsohlen und Eispickeln in den Händen klommen wir über die Grate, zu denen sich die Eisschollen am Strand aufgetürmt hatten, und begannen uns dann einen Weg über deren sich unablässig bewegende, schwankende Masse zu bahnen. Wir mussten von einer Scholle zur nächsten springen, über Adern schwarzen und eiskalten Wassers hinweg. Wir wussten, dass die Tiefe des Fjords dreihundert Meter oder mehr betrug, was aber letztlich irrelevant war: Nach einer Minute in dem eisigen Wasser, also schon bevor man bis auf den Grund gesunken wäre, wäre man sowieso tot gewesen.
    Es dauerte viele Stunden, und mehr als einmal entgingen wir nur um Haaresbreite dem Tod, aber wir schafften es bis zu dem Boot, und obwohl dies erst eine Weile, wie von der Mannschaft befürchtet, im Eis feststeckte und wir noch ein weiteres Tier – einen Moschusochsen – schießen mussten, um etwas zum Essen zu haben, gelang es uns am Ende, das offene Wasser des Sunds zu erreichen. Eine Woche später waren wir wieder in England.
    Fünf von uns wurden später Geologen, und zwei kehrten beinahe jedes Jahr in jenen Teil Grönlands zurück, den wir damals gemeinsam erforscht hatten. Sie kannten diese entlegene Region nach einiger Zeit wie ihre Westentasche, wussten über das Eis, die Felsen, die Tiere und vor allem auch das Wetter dort fast genauso gut Bescheid wie die Einheimischen. Und im Lauf der Jahre hatten sie bemerkt, dass einige recht merkwürdige Veränderungen im Gang waren.
    Mit einigen Veränderungen hatte man allerdings rechnen können: So ist die Siedlung jetzt ein wenig größer als früher – damals wurde sie von vierhundert Personen bewohnt, heute von fünfhundert. Und sie hat einen anderen Namen erhalten, einen, der nicht mehr an den britischen Kapitän eines Walfangschiffs, einen gewissen William Scoresby, erinnert; sie heißt nun Ittoqqortoormiit, grönländisch für großes Haus. Der Eisbrecher aus Kopenhagen kommt immer noch zweimal im Jahr hierher, mittlerweile wird der Ort aber während des Sommers auch zweimal wöchentlich angeflogen. Die Entalik gibt es schon lange nicht mehr, aber an ihre Stelle ist ein viel größeres und robusteres Boot getreten. Die jungen Männer, die 1965 das alte Boot bemannten, sind jetzt Oldtimer, und das neue wird von einer Schar starker junger Burschen in die entlegensten Winkel und Nischen des Fjords gerudert – er misst vom Atlantik bis zu dem ihn speisenden Gletscher dreihundertvierzig Kilometer und ist damit der längste

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