Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
der Welt –, um allen, die sich entschieden haben, in noch größerer Abgeschiedenheit, weit vom offenen Meer entfernt zu leben, frische Vorräte zu bringen.
Diese jungen Burschen waren die Ersten, die auf signifikante Veränderungen in ihrer Umwelt aufmerksam wurden. Als sie anfingen, den Sund zu befahren, konnten sie mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie es gegen Ende der wärmeren Jahreszeit mit vom Sturm angetriebenem Packeis zu tun bekommen würden, so wie es uns damals, 1965, geschah. Milliarden Eisschollen würden sie von allen Seiten bedrängen, und es würde schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein voranzukommen. Zum ersten Mal pflegte so etwas gegen Ende September zu geschehen. Bei seltenen Gelegenheiten wurde das Packeis schon ein paar Wochen früher in den Sund getrieben: In unserem Fall waren die Schollen, die uns bei der Rückkehr in die Heimat so behindert hatten, schon in der ersten Septemberwoche in ihn gespült worden. Das geschah aber, wie gesagt, selten.
Doch dann begann etwas Merkwürdiges einzutreten – und zwar den Erinnerungen der Grönländer nach von Mitte der 1990er Jahre an: Die Eisschollen kamen mit wachsender Verzögerung, zu einem immer späteren Zeitpunkt in den Sund geschwommen. Im August gab es nie mehr welche, was als Erleichterung empfunden wurde. Doch traten sie auch nur noch äußerst selten Anfang September auf, und das kam den Einheimischen befremdlich vor. Gegen Ende des 20. und dann zu Beginn des 21. Jahrhunderts blieb der Fjord Jahr um Jahr bis fast zum Ende des Monats eisfrei. Ja, manchmal zeigte sich bis zum letzten Septembertag kein Eis, was man früher nie erlebt hatte.
Und was den Zeitpunkt betraf, zu dem das Eis in dem Fjord so fest und dick war, dass man alle Boote ans Ufer zog und für den Rest des Winters mit dem Kiel nach oben aufbockte, so war der früher immer dann gekommen, wenn die Sonne niedrig am Himmel stand und es den halben Tag lang dunkel blieb. Das Abnehmen der hellen Stunden fiel also mit dem Sichbilden der dicken Eisschicht zusammen. Jetzt aber hatte man, obwohl es den größten Teil des Tages stockfinster war, immer noch einen offenen Meeresarm vor sich, man sah Wellen und hörte Wasser rauschen und rinnen, Eindrücke, die eigentlich mit jener Zeit assoziiert waren, an denen die Sonne den ganzen Tag lang schien. Der arktische Winter hatte – rein kalendarisch – begonnen, aber die arktischen Gewässer waren nicht so kalt wie ehedem, und das Eis war zumindest nicht mehr in solchen Mengen vorhanden wie früher. Gegen Ende der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts war jedermann klar geworden, dass das, was zunächst ein Sonderfall zu sein schien, eine allgemeine Entwicklung anzeigte. Die Arktis oder jedenfalls dieser Teil von ihr erwärmte sich tatsächlich.
Die Klimaveränderung hat also auch diese kleine, an einem Arm des Atlantiks gelegene grönländische Siedlung erreicht. In dieser Region steigen die Temperaturen vielleicht nur relativ sachte an – man bekommt nicht so etwas Eindrucksvolles zu sehen wie das Zerbersten von ländergroßen Eisflächen, zu dem es achttausend Meilen weiter südlich am Rand der Antarktis kommt. Die wirtschaftlichen Folgen werden für Ostgrönland nicht so einschneidend sein wie das Schmelzen des Polareises nördlich von Russland, ein Vorgang, der es 2009 Frachtern ermöglichte, die sogenannte Nordwestpassage zwischen Archangelsk und Wladiwostok zu benutzen. Die Entwicklung wird aber das Verhalten der Grönländer, ihre Lebensweise verändern – der späte Winterbeginn wird die Periode verlängern, in der sie Narwale, Walrosse und Robben jagen oder sich dem Fischfang widmen. Es wird sich auch auf das Datum auswirken, an dem der Eisbrecher aus Kopenhagen zu Beginn der warmen Jahreszeit eintrifft, und ebenso auf das seiner definitiven Rückkehr nach Dänemark, denn dem späteren Zufrieren des Sundes steht, wie zu erwarten, ein früheres Aufbrechen der Eisfläche im Frühjahr gegenüber. Man sagt, dass die Erderwärmung weitreichende und gefährliche Folgen haben wird. Auch entlegene Orte wie Ittoqqortoormiit werden Veränderungen erleben, doch in diesem frostigen Winkel der Welt wird man nicht alle als negativ empfinden.
Eine ganze Reihe unerwarteter Ereignisse dieser Art – von denen einige sich nur lokal auswirken, andere den ganzen Planeten tangieren – werden derzeit in und an allen Weltmeeren beobachtet, vor allem aber im und am Atlantik. Über viele Veränderungen wissen wir nur allzu gut Bescheid.
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