Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
als den ihm zustehenden Anteil an solidem Eis.
Im Winter sind die freien Wasserflächen des Nordatlantiks mit Eisbergen übersät, die von den Strömungen in das Gebiet weit im Süden von Grönland getragen werden – wie unter anderem die Titanic- Katastrophe zeigt. Der Nordatlantik wird auch rund um Island von Treibeis geradezu verstopft. Und von der Region nördlich von Island aus erstreckt sich eine breite Wasserstraße ohne Unterbrechung direkt bis zum Nordpol; von keinerlei Landmassen gehindert, kann Packeis mit dem einen oder anderen darin eingeschlossenen, von einem arktischen Gletscher abgesprengten Eisberg über diese Wasserfläche bis in den eigentlichen Ozean gelangen, wo sich Tausende von grönländischen Eisbergen dazugesellen.
Grönland, die größte Insel der Welt, die nicht den Status eines Kontinents besitzt – gegenwärtig Heimat von siebenundfünfzigtausend Menschen und drei Millionen Kubikkilometer Eis –, hat eine Schlüsselposition inne. Sein gesamtes Eis schmilzt oder taut gegenwärtig unterschiedlich schnell. Hunderte von Eisbrocken schlittern entweder an der Ostküste der Insel von der dortigen Eiskappe direkt in den Atlantik, oder sie brechen von den riesigen Gletschern im Westen ab und gelangen auf indirektem Weg, durch die Davisstraße und die Labradorsee, in den Ozean. Von Grönland strömt auch unablässig neues Schmelzwasser ins Meer: Es ist, als wäre ein gewaltiger Hahn weit aufgedreht worden, so dass die Wanne schnell vollläuft und niemand in der Nähe ist, der das Wasser wieder abstellt.
Dass der Atlantik neues Eis anzieht, ist kein auf den Norden beschränktes Phänomen. Auch im Süden ist er wie übersät mit Eisbergen, was vor allem auf eine besondere tektonische Gegebenheit zurückzuführen ist. Weit unter der Wasseroberfläche ragt eine Felsenkette, die als Antarktische Halbinsel bekannt ist, von dem Kontinent Antarktika in Richtung Norden bis ins Herz des Südatlantiks hinein; sie erreicht beinahe die Südspitze Südamerikas. An ihrem Ende macht sie aber genau wie der südamerikanische Kontinent einen Schwenk nach Osten. Diese beiden Felsenreihen, mit Kap Hoorn im Norden und den Großbritannien unterstehenden Gebieten um Elephant Island im Süden, tragen zur Bildung der berüchtigten, überaus gefährlichen Wasserstraße bei, die als Drake Passage bekannt ist. Auf Landkarten sieht die Stelle wie eine »Austrittswunde« von einer in Richtung Osten abgefeuerten Granate in einer Panzerplatte aus. Die im Pazifik gelegene Eintrittsstelle ist glatt, doch im Atlantik sind die Wände unsauber nach oben gebogen, sie bilden einen riesigen Trichter mit abgebrochenem Endstück, wie geschaffen dafür, Dinge in den Atlantik hineinzuleiten.
Und das geschieht tatsächlich. Durch die Trichteröffnung rauscht ein Cocktail aus heftigen Westwinden, gewaltigen Strömen eiskalten Wassers und Mengen vor sich hin schmelzender Eisberge in Richtung Osten. Diese großen Zitadellen aus Eis werden mit beeindruckender Geschwindigkeit direkt in den Südatlantik getrieben, wo sie südlich der Falklandinseln und nahe an den Inselgruppen von South Georgia und South Sandwich vorübergleiten. Sie stellen in den Gewässern des südlichen Atlantiks eine Gefahr dar, die die Mannschaften der wenigen Schiffe, die in diesem Gebiet unterwegs sind, dazu zwingt, unablässig auf der Hut zu sein. Doch überdies lassen sie von dem Augenblick an, da sie ins Wasser gelangen, den Meeresspiegel ansteigen. Und wenn Tausende von ihnen vom Land ins Meer rutschten, würde sich der Wasserstand in bedrohlicher Weise Millimeter um Millimeter erhöhen.
Das Vorhandensein von Fremdeis, also solchem Eis, das sich an Land gebildet hat, ist ein Phänomen, das in allererster Linie den Atlantik betrifft. Natürlich stehen die Ozeane in Verbindung miteinander; viele Ozeanografen sprechen von einem einzigen »Weltozean«, und dessen Unterteilung in verschiedene, unterschiedlich benannte Meere ist für sie nur eine Erfindung des Menschen. Die Probleme des Atlantiks können also nicht auf diesen beschränkt bleiben, sondern werden sich sehr bald weltweit bemerkbar machen. Doch die Symptome des Wandels wird man zuerst im Atlantischen Ozean bemerken – man tut es bereits.
Ein starker Anstieg des Wasserspiegels des Atlantiks vor langer Zeit hatte gesellschaftliche Veränderungen der Art zur Folge, wie einige sie auch heute prognostizieren und fürchten. Vor ungefähr 8700 Jahren, während einer der vielen früheren Perioden der
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