Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
nicht irgendwann das ganze Land mitsamt seinen Menschen wegschwemmt. Es werden Karten veröffentlicht, die zeigen, wie weit und wie tief das Territorium bei einem auch nur mäßigen Anstieg des Meeresspiegels überflutet werden könnte. Wenn er sich auch nur um einen einzigen Meter erhöht, würde nahezu die ganze Nordseeküste von Bremerhaven im Norden bis nach Calais im Süden in Gefahr stehen, unter den Wogen zu verschwinden. Bei Flut würde das Wasser meilenweit ins Landesinnere vordringen, bis nach Breda, Utrecht und Bremen. Die Hälfte der Felder würde von Salzwasser durchtränkt werden und wäre anschließend nicht mehr für den Ackerbau zu verwenden. Große holländische Städte wie Amsterdam, Den Haag und Rotterdam würden mit dem Wechsel der Gezeiten immer wieder überflutet werden.
Doch die Holländer werden nicht zulassen, dass es so weit kommt. Alle möglichen Einrichtungen – schon vorhandene riesige bewegliche Schleusentore und Barrieren –, die die Polder schützen und bei Stürmen Flutwellen daran hindern, die Flüsse hinaufzulaufen, werden verstärkt und erhöht. Doch in den größeren Städten werden noch weitere Maßnahmen getroffen, wobei die Siebenmillionenstadt Rotterdam, die über den geschäftigsten Hafen Europas verfügt, an vorderster Front steht. Ein großer Teil des Stadtgebiets liegt heute schon unter dem Meeresniveau, und die Stadtväter sind zu der Überzeugung gelangt, dass es, statt das anflutende Wasser zu bekämpfen, auf lange Sicht ratsamer sei, zu einer Koexistenz mit ihm zu kommen, es aufzunehmen und eine Art Venedig des Nordens zu schaffen – allerdings mithilfe der modernen Ingenieurskunst sicherzustellen, dass dieses zweite Venedig nicht versinkt.
Daher fördern sie die Vertiefung existierender Kanäle und die Verbreiterung von Flüssen; sie lassen riesige Wasserauffangtanks unter allen neuen Büroblocks und Parkplätzen installieren und regen zur Anlage von mit Gras bewachsenen Dächern und stets durstigen öffentlichen Parks an. Sie lassen große Spielplätze für Kinder anlegen, auf denen diese sich bei trockenem Wetter vergnügen können, die sich aber im Nu in flache Seen für alle möglichen Arten von Wassersport verwandeln lassen, wenn es regnet oder die Flut höher steigt als gewöhnlich; sie erweitern die großen Docks und Containerterminals, verlagern diese aber an ein weiter stromabwärts gelegenes Teilstück von Rhein und Maas. Die sinnvollste Maßnahme, um dem zu erwartenden Anstieg des Meeresspiegels entgegenzuwirken, besteht vielleicht in der Konstruktion einer großen Menge schwimmfähiger Gebäude im Bereich der alten Docks. Gegenwärtig experimentiert man mit Pavillons, die auf Pontons errichtet werden. In nicht allzu langer Zeit, versichern die Bürger, wird es Wohnanlagen und Einkaufszentren geben, die fröhlich auf dem Wasser herumschwimmen, ganz gleich, welche Höhe dieses erreicht.
Die meisten anderen großen Städte sind aber konservativer, was die Zukunftsplanung betrifft, und auch knapper bei Kasse und beschränken sich darauf, moderne Äquivalente der alten Erdwälle oder Deiche anzulegen. London, das in einem Lehmbecken liegt, wird vom Ansteigen der Meere stark betroffen sein, hat aber noch nicht so kühne Projekte ins Auge gefasst wie die Erschaffung einer experimentellen Wasserwelt, wie man sie in Rotterdam plant. Man erwartet in Großbritannien, dass alle an Flussmündungen gelegenen Städte und Ortschaften überflutet sein werden, und ist wegen der Atomkraftwerke besorgt, die alle unweit der See errichtet wurden, weil sie große Mengen Kühlwasser benötigen. Außerdem fürchtet man, dass Wasser in das Londoner U-Bahn-System eindringen könnte. Doch unternommen wird wenig. Die einzige Schutzeinrichtung, die London heute besitzt, ist die sich bei Greenwich über den Fluss ziehende Thames Barrier, eine immer noch ungeheuer futuristisch anmutende Reihe von bei normalen Verhältnissen unter der Wasseroberfläche versenkten schwenkbaren Toren. Sie wurde in den 1970er Jahren entworfen, um bei Sturmfluten das Wasser zurückzuhalten, und ist seit ihrer Inbetriebnahme mehr als hundertmal aktiviert worden. Der Anstieg der Meeresoberfläche bedeutet mit Sicherheit, dass die Tore in naher Zukunft immer häufiger geschlossen werden müssen. Als das Sperrwerk konstruiert wurde, war dieser Anstieg sowohl konstant als auch vorhersehbar; mittlerweile geht er immer schneller vonstatten, und man kann immer weniger genau vorhersehen, wie das Wasser an der
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