Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Erderwärmung, zerbarst eine Eisbarriere, die das Wasser des Lake Agassiz, eines riesigen Gletschersees im Gebiet des heutigen Zentralkanada, zurückhielt. Eine gewaltige Menge Süßwasser – die, wie einige meinen, fünfzehn Lake Superiors entsprach – rauschte ungestüm in die Hudson Bay und von dort ins offene Meer. Das Niveau des Ozeans stieg innerhalb weniger Wochen um mehr als einen Meter an. Archäologische Funde lassen vermuten, dass dies Auswirkungen auf der gesamten nördlichen Halbkugel hatte. Noch in so weit entfernten Regionen wie dem Schwarzen Meer zogen Bauern umgehend von den Küsten weg in die sichereren Hügelgebiete, um dort den Boden zu bestellen; in diesen Gebieten existierten aber bereits Jäger- und Sammlerkulturen. Wie man sich denken kann, kam es bald zu Spannungen zwischen den beiden unterschiedlichen Gruppen.
Heute macht sich vor allem in Regionen, die unmittelbar betroffen wären, Besorgnis über die Folgen eines Anstiegs der Meere und eines Klimawandels breit. Die Regierung der Malediven wurde 2009 von der Presse mit großer Aufmerksamkeit bedacht, als sie eine Kabinettssitzung unter Wasser abhielt, bei der alle Minister Taucheranzüge trugen. Man wollte auf diese Weise deutlich machen, wie verletzlich man im Fall eines Anstiegs des die Inseln umgebenden Ozeans sein würde, auch wenn dieser bei Weitem nicht so gewaltig ausfallen würde wie der, den die Flut von Agassiz zur Folge hatte. Die nepalesische Regierung hielt ein in ähnlicher Weise der Weltöffentlichkeit zur Kenntnis gebrachtes Treffen im Basislager des Mount Everest ab, um darauf hinzuweisen, dass die tauenden Eis- und Schneefelder auf den Gipfeln des Himalaja die Äcker unter Wasser setzten und die Ernten vernichteten sowie die Dörfer überfluteten. Als Erste werden jedoch die Menschen, die im oder am Atlantik zu Hause sind, die Auswirkungen dieser Eisschmelze zu spüren bekommen.
Nehmen wir zum Beispiel die Hafenstadt Rotterdam, nehmen wir die Provinz Holland, ja die gesamten Niederlande. Wohl kein anderes Land am Atlantik ist so eng mit dem Meer verbunden, von ihm abhängig. Ein Viertel seines Territoriums liegt unter Meeresniveau, und seit den 1920er Jahren sind Landgewinnung und der Bau von Deichen und Dämmen um die Polder sowie andere Maßnahmen zum Schutz vor Überflutung von zentraler Bedeutung für die Erhaltung dieses Landes gewesen. Die Sicherung der Polder, also der dem Meer abgerungenen Landflächen, ist von solcher Wichtigkeit, dass man ein politisches Modell erdacht hat, um dem Rechnung zu tragen: das Polder-Modell, das absoluten Konsens aller Bürger für den Fall verlangt, dass diese Flächen bedroht sind; gleichgültig, wie tiefgehend die Meinungsverschiedenheiten bezüglich anderer Dinge sind, müssen dann alle Debatten und Auseinandersetzungen sofort beendet werden, da die Unversehrtheit der Polder Priorität vor allem anderen hat.
Die niederländische Geschichtsschreibung hält die Daten von katastrophalen Stürmen fest, so wie man in anderen Ländern die von Befreiungskriegen oder den Regierungszeiten von Monarchen aufzeichnet. Während man in Amerika der ereignisreichen Jahre 1776 und 1865 sowie 1941 gedenkt und in Großbritannien der Jahre 1066, 1688 und 1914, verbindet man in den Niederlanden Denkwürdiges mit den Daten 1170 (die Allerheiligenflut ließ das Wasser der Zuidersee zum ersten Mal salzig werden), 1362 (bei der Groten Mandränke wurden fünfundzwanzigtausend Menschen von einer gewaltigen Sturmflut weggerissen), 1703 (es kam zu dem unvorstellbar todbringenden Großen Sturm, der auch England in Mitleidenschaft zog und Daniel Defoe veranlasste, ein Buch – The Storm – darüber zu schreiben) und 1916 (als man zum ersten Mal landesweit konzertierte Bemühungen gegen die Winterfluten unternahm, ein Unterfangen, das bis heute andauert). Im Januar und Februar 1953 kam es ebenfalls zu entsetzlichen Stürmen – eine Frühjahrsflut und ein Nordwestwind verbanden sich in fataler Weise, so dass die Wogen turmhoch gingen und Breschen in die Deiche und Dämme schlugen. Nahezu zweitausend Menschen ertranken. Der Wiederaufbau in den Jahren danach bestärkte die holländische Bevölkerung in ihrem Entschluss, dafür zu sorgen, dass etwas Ähnliches nie wieder geschehen würde.
Das ist der Grund dafür, dass man sich in den Niederlanden entschiedener als anderswo beeilt, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass der ständig ansteigende Ozean jenseits der massiven Deiche
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