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Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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in einem mitreißenden Anfall von Verrücktheit den letzten dieser Leuchttürme, der eingestürzt war, nachdem man ihn aufgegeben hatte. Er sagte, er habe begriffen, wie wichtig dieser eine schwache Lichtstrahl für all die großen Segler und Dampfschiffe gewesen sei, die sich in stockdunkler Nacht anschickten, Kap Hoorn zu umrunden, und sei der Romantik, die sich mit diesem winzigen Licht- und Lebensfunken im öden Niemandsland verbinde, verfallen. Es gelang ihm, bei Pariser Freunden so viel Geld zu sammeln, dass er einen Ersatz für den eingestürzten Turm bauen konnte.
    Bronner und sieben ähnlich verrückte Freunde brauchten zwei lange Mittsommermonate, um ihren Plan auszuführen. Er hatte Kisten voller Paté, Cognac und gutem Burgunder mitgenommen, um seine Helfer bei Laune zu halten, und beauftragte einen Komponisten, eine Symphonie am Ende der Welt zu schreiben, die an jenem stürmischen Märztag des Jahres 1998 aufgeführt wurde, an dem er den Turm endlich der argentinischen Marine übergeben konnte. Die heute auf der Insel stationierten Seeleute kümmern sich um das Leuchtfeuer, eine bescheidene mit Solarzellen betriebene Anlage. Der Unterhalt des Turms erfordert zwar wenig Aufwand, aber wie die meisten seiner Vorgänger vermag er Seeleuten, die dieses gefährliche Vorgebirge zu umrunden versuchen, nur wenig als Orientierungshilfe und zur Warnung zu dienen. Die Vorgängerbauten waren zu klein, und man hatte sie aus einem unerklärlichen Grund alle hinter die Sicht versperrenden Gebirgszügen errichtet. Bronners Neubau war durch die Erfindung von GPS aber mehr oder weniger obsolet geworden.

In 250 Millionen Jahren werden sich die einzelnen Erdteile von heute zu einem neuen Pangäa verbunden haben, womit der Atlantik – 440 Millionen Jahre nach seiner Geburt – verschwunden sein wird.

Im Zusammenhang mit unserer Geschichte, der von der Lebensdauer des Atlantiks, kommt es aber mehr auf die symbolische Bedeutung des Leuchtfeuers auf Staten Island an als auf seine Nützlichkeit – oder vielmehr Nutzlosigkeit. Denn die nordöstlichste Klippe der Insel, auf welcher der Turm aufragt – direkt unterhalb von Mount Richardson und Pickersgill Point, die an die frühen britischen Erforscher der Region erinnern –, ist wahrscheinlich der erste Teil des amerikanischen Kontinents, der mit Asien zusammenprallen wird, sobald das vorhergesagte Sichverschieben der Kontinente sich seinem Ende genähert haben wird.
    Wenn die Berechnungen zutreffen, wird sich der Ort unterhalb von Mount Richardson, an dem der Leuchtturm steht, in etwas weniger als zweihundert Millionen Jahren langsam auf die Stelle im äußersten Süden der Malaiischen Halbinsel zubewegen, wo sich heute ebenfalls ein Leuchtturm erhebt. Dieser, das 1854 errichtete sogenannte Raffles Lighthouse, markiert sowohl die Einfahrt in den Hafen von Singapur als auch die in die Malakkastraße. Doch wenn Raffles mit Richardson zusammentrifft und Singapur mit Staten Island, dann werden die lange und langsam zusammengepressten Wasser des Atlantiks schon längst gezwungen gewesen sein, woandershin zu fließen. Die von Christopher Scotese angefertigten Karten zeigen ein kleines Binnenmeer, das von Indien, Arabien, Ostafrika, Argentinien und Sumatra umgeben ist, doch verdient es kaum die Bezeichnung »Meer«, und es wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht lange bestehen. Es zeichnet sich eigentlich nur durch den traurigen Umstand aus, dass es die letzten Moleküle dessen in sich birgt, was einmal der älteste und – hinsichtlich der Zivilisationen, die an seinen Ufern entstanden und florierten – größte Ozean auf dem Planeten war.
    Der Atlantik wurde vor hundertneunzig Millionen Jahren geboren, und er wird vielleicht noch weitere hundertachtzig Millionen Jahre existieren. Seine gesamte Lebensspanne wird sich also auf annähernd vierhundert Millionen Jahre belaufen – Jahre, die nahezu in ihrer Gesamtheit von gigantischen geologischen Dramen geprägt waren, von klimatischen Phänomenen eines Ausmaßes, wie man es sich kaum vorzustellen vermag, von der Evolution und dem Aussterben Tausender Arten von Reptilien, Säugetieren, Fischen, Pflanzen und einzelligen Lebewesen.
    In vielleicht zweihunderttausend von diesen annähernd vierhundert Millionen Jahren hat der Mensch an den Ufern des Atlantiks existiert und dort floriert. Er hat zunächst die Küstenstriche im Osten bevölkert, dann die Landmassen im hohen Norden in Besitz genommen, um schließlich, einige tausend

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